Die romantische Dichtung und Prosa in den Platastaaten und Chile 33.
hier wirklich ein von Gott beseelter Sänger die Harfe schlägt, ein
- Hierophant, wie der spanische Kritiker ihn nennt. Die ganze Na-
tion gab ihm zum Grabe das Geleite mit Julio Roca, dem Präsidenten
der Republik, an der Spitze; und dessen Worte am Grabe kenn-
zeichnen den Dichter so gut, daß ich sie hier anführen will: „Alle
kennen den Titanen,.die schöpferische Macht seines Genius, die Er-
habenheit seiner Konzeptionen, den souveränen Pomp seines Stiles.
Da bleiben seine Verse unsterblich, die er in der Mulde der Anden,
des Amazonas und des Plata ausgoß; aber nicht alle kennen den auf-
richtigen Patrioten, den zärtlichen Vater, den treuen Freund, den
reinen und schuldlosen Menschen, der den gewöhnlichen Lebens-
bräuchen wie ein Fremdling gegenüberstand.... Wer hat nicht, wenn
er ihn einen Augenblick betrachtete, wie er immer in Gedanken ver-
tieft war, mit dieser Miene unermeßlicher Kontraktion und mit diesem
Gange eines Nachtwandlers, das námliche gedacht?“1)
Das Gedicht , Atlántida, mit dem Andrade 1881 den ersten
Preis bei den Blumenspielen errang, ist der hóchste Ausdruck der
Begeisterung des Dichters für das Lateinertum. Er entwickelt die
geschichtliche Rolle der Lateiner; Rom, Spanien, Frankreich lösten
sich nacheinander in der Führung ab und sind alle dem Verfall ent-
gegengegangen; nun soll die Führerschaft an die jungen und unver-
brauchten lateinisch-amerikanischen Republiken übergehen. So schließt
- sein großes Gedicht: BR Ca
Olegario Victor Andrade: Aus der Atlantis.
VI.
: Du bist dasselbe Meer, das eines Tages
7 Gebar aus wirren Nebelbogen
Ein Weltenkind, jungfráulich, glúckbereit,
Vom Schaukelspiel der Wellen eingeschlafert,
In Windeln sanft gehüllt,
In Windeln aus dem Schaum der Wogen,
In Hermelinfells blütenweißes Kleid,
‘Das deine stolze Küste schmiickt. _
Mit welcher Liebe doch bewachtest
Du seine Wiege, und tief bedrückt
Hülltest in Nebelschleier du dich ein und machtest
Es so, daß nicht auf ihrer Wanderung die Sonnenbahn,
1) Richard Ludloff, Argentinische Dichtungen. Dresden u. Leipzig 1910.
Bd. I. S.9. Das drei Abteilungen (Bände) umfassende Buch von Ludloff
enthält metrische Übertragungen der bedeutendsten Dichtungen von An-
drade mit literarischer Einleitung. Die Übersetzung tut aber leider unserer
Sprache zu sehr Gewalt an, als daß sie wirken könnte, und gibt von An-
drades wuchtigem Formtalent keinen richtigen Begriff.