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Und wohin?
n Dr. Hans Klingspor.
] Karl A. Wieske, Múnchen 6.
>
-Sollen wir auswandern
Und wohin?
von
Dr. Hans Klingspor.
2. Auflage.
6. bis 10. Tausend.
Múnchen 1919
Verlag Karl A. Wieske
INHALTSVERZEICHNIS:
Weshalb wollen wir auswandern? . p : Ñ O
Kónnen wir auswandern? . A a , ; s Pe 1
Wohin sollen wir auswandern? . % , A a os
Allgemeines úiber Siidamerika . o S > : . 49
Brasilien : E
ls 1) Land und Leute : : E a e ¿0c0n
E 2) Lebens- und Erwerbsverháltnisse : A e
3) Das Deutschtum in Brasilien ; á z 299
__—Axgentinien , S y o : S ó : - 110
Chile go . NS , ; : : EE
Paraguay und Uruguay Da ; - y . 125
Einige Winke fiir Auswanderer . , ; E Ad 127
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1919 by
Karl A. Wieske, Verlag, Múinchen.
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CODECS
EINLEITUNG.
Weshalb wollen wir auswandern?
Der grofe englische Nationalókonom Malthus
hat den Satz aufgestellt, der zu eimer der Grund-
lehren der Volkswirtschafts- und Gesellschaftswissen-
schaft geworden ist, dafí es mit eherner Notwendigkeit
zur Verarmung der Einwohner fiihren mul, wenn in
einem Lande ein Zuwachs an Bevólkerung stattfindet,
ohne dab in gleichem Mabe die Menge des anbau-
-——fáhigen Bodens und der Produktionsmittel, sowie der
- Ertrag der Landwirtschaft und Industrie zunimmt.
Ein Staat kann eben auch nur einer begrenzten Zahl
von Menschen zur dauernden Herberge werden. Es
; fist nicht nur der Raum selbst, der hier Schranlkien zieht.
- Dieser hat vielmehr seine Bedeutung fir die Móglich-
3 Í
1+*
keit des Bevólkerungszuwachses in demselben Mabe
verloren, als man «es immer mehn gelernt hat, in den
Grobstádten mit ihren Mietskasernen, die oft Hun-
derten Wohnung gewáhren, also auf verháltnismibig
ganz geringen Fláchen, gewaltige Massen von Men-
schen zusammen zu ballen. Ausschlaggebend ist heut-
zutage ein ganz anderer Faktor, námlich die Frage,
welcher Menge von Menschen ein Staat den Lebens-
unterhalt dadurch zu gewáhren im Stande ist, dal er
ihnen Gelegenheit einmal zur Arbeit, zum anderen zur
Befriedigung der sogenannten Existenzbedirfnisse,
das sind vor allem Kleidung und Nahrung, bietet.
Denn wenn sich die Vólker auch' in normalen Zeiten
gegenseitig Waren liefern und der Vólkerbund, der
in der Griindung begriffen ist, erwarten lit, dali
dieser internationale Verkehr sich in Zukunft noch
steigert, so kann doch niemals die Einfuhr auf dia
Dauer die Gefahr, die fiir die Bevólkerung eines
Staates darin liegt, dal dieser seine Einwohner nicht
faus elgenen Mitteln zu unterhalten vermag, bannen:
Nur derjenige Staat darf sich den Luxus einer star-
ken Einfuhr gestatten, der entweder aus einer ebensat
starken eigenen Ausfuhr die Kosten der fremden'
Produkte und Rohstoffe begleichen kann, oder dessen
Bevólkerung so wohlhabend ist, daf. sie diese Kosten,
ohne dali eine Verminderung des Volksvermógens ein-
tritt, aus ihren Zinsen zu decken vermag. Ohne das
Vorliegen eines dieser beiden Momente wird dia
dauernde Einfuhr zu ¡einer immer wachsenden, schlief=
lich unertráglichen Schuldknechtschaft gegeniiber dem
Ausland fiihren.
4
í.— Die Erscheinung des ,,Rentnerstaats, bei dem
der durchschnittlich hohe Wohlstand einer ansehn-
lichen Schicht der Bevólkerung es gestattete, ohne
Riicksicht auf den Export aus dem Ausland zu be-:
zichen, gehórt dem Zeitalter der rein kapitalistischen
Wirtschaftsform an, das sich' in den einzelnen Láin-
dern in verschiedenem Tempo dem Untergang náhert.
Selbst Frankreich, das vor dem Kriege diesen Typus
des Rentnerstaates am vollkommensten aufwies, wird
lhn trotz des fir Frankreich so gliicklichen Aus-
ganges des Kiampfes infolge der Lastem des Krieges,
die keine noch so grofe Entschádigung fir irgend
ein Volk vóllig auszugleichen vermag, nicht beibehalten
kónnen. In Zukunft muf daher jeder Staat entweder
die Existenzmittel, die zum Unterhalt seiner Bevólke-
- rung notwendig sind, selbst herstellen oder Gegenwerte
- schaffen, die er zum Austausch gegen fremde Pro-
- dukte verwendet. Die Arbeit, der Wertmesser aller
wirtschaftlichen “Dinge, ist demnach auch fiir die
- Besiedelungsfrage von grundlegender Bedeutung. Der
moderne Staat kann nur so vielen' Menschen Aufent-
-halt gewáhren, als er Arbeitsmóglichkeit bietet, als
in 1hm Gelegenheit vorhanden ist, durch ¡Arbeit Werte
zu erzeugen, gegen die man die Mittel zum Lebens-
unterhalt einzutauschen vermag. Dieser Zusammen-
hang zwischen Arbeitsgelegenheit und Bevólkerungs-
-zahl zeigt sich am deutlichsten danm, wenn durch
irgend welche Umstánde eine Anderung an einem
der beiden Faktoren eintritt. Nimmt z. B. infolge
Geburtenriickgangs oder einer Seuche die Bevólke-
Yung ab, so steigt nicht nur infolge des Mangels an
5
Arbeitskráften die Arbeit in ihrem Preis, es wird
auch das Uberangebot von Arbeitsgelegenheit Fremde
anlocken und zu einem Zuzug von auben fiihren.
Nimmt dagegen die Bevólkerung zu, ohne dab, die
vorhandene Arbeitsmúglichkeit mit diesem Wachs-
tum im selben Mabe steigt, oder verringert sich
letztere, so sinkt einmal die Arbeit in ihrem Preis,
d. h. die Lóhne werden geringer, zum andern bildet
sich die traurige Erscheinung des Heeres der Arbeits-
losen. Derartige Krisen treten auch in normalen
Zeiten durch die mamigfaltigsten Ursachen, wie Mib-
ernten etc. auf. Ein gesunder Wirtschaftskórper
pflegt sie aber wie eine leichte Krankheit in recht '
kurzer Zeit zu ¡iberwinden, so dal sie meist, ohne
nennenswerte Spuren und Scháden zu hinterlassen,
voriibergehen. Ganz anders verhált es sich aber,
wenn sie als Folgeerscheinung von Ereignissen auf-
treten, die das gesamte wirtschaftliche und staatliche
Leben eines Volkes von Grund auf erschittern und
umwilzen. Es fehlt dann an dem ruhigen Fortgang
der Dinge im gewohnten, Geleise, der kleine Schwan-
kungen ertrágt und iiberwindet. Gefahren und Schá-
den, deren Beseitigung sonst nur die Frage weniger
Monate bedeutet, nehmen einen Umfang an, dali, das
NWohl und Wehe eines grofen Teiles, vielleicht auch
der gesamten Bevólkerung-eimes Landes von ihnen
bedroht ist. Es lábt sich aber kein Ereignis denken,
das einen Staat so in seinen Grundfesten erzitterm
láfit, wie ein verlorener Krieg. Ist dies nun gar ein
Krieg, der iiber vier Jahre gedauert hat, der fast
gegen die gesamte Welt mit dem Aufwand aller mili-
6
tárischen, politischen und wirtschaftlichen Mitteln ge-
fihrt worden ist, so mul; mani es als die unabánder-
liche Folge begreifen, jwenn von dem alten Wirt-
schaftsleben des besiegten Staates so gut wie nichts
úbrig geblieben ist, wenn das Gebáude, seiner Volks-
wirtschaft, unter dessen Dach' seime Glieder sicheren
Schutz, Unterkunft und 'Auskommen fanden, einge-
stiirzt ist und in Triimmer liegt. Die Tiefe des Stur-
zes zeigt uns Deutschen erst so recht, auf welch
stolzer Hóhe des Wirtschaftslebens unseres Vater-
landes gestanden hat, und der Umstand, daf es bei
den Schicksalsschlágen, von einer Schwere, wie sie
noch nie ein Volk ertragen mubte, nicht vóllig ban-
kerott gegangen ist, beweist am besten, wie gesund
es im innersten Kern war. Wie schmerzlich der Ge-
danke fiir uns ist, wir miissen uns daran gewóhnen,
fiir die náchste Zukunft aus der Reihe der ersten
Wirtschaftsmáchte ausgeschieden und gezwungen zu
“sein, in langsamem záhen Kampf uns unseren Platz
an der Sonne zuriickzuerobern.
Eine der schwersten Sorgen nun, die angesichts
des Zusammenbruchs unsere Gelehrten, Rolitiker und
Staatsmánner bescháftigt, ist die Tatsache, daf die
alte Mutter Deutschland vorláufig nicht im Stande
ist, allen ihren Kindern eine gesicherte Heimat zu
bieten. Das furchtbare Gespenst der Arbeitslosig-
keit taucht in immer erschreckenderer Grófe auf:
Dies zeigen die Zahlen. Weisen doch die Berichte
fir Mitte Januar 1919 allein in Minchen 32000,
in Berlin 250000 Arbeitslose auf. Das macht, die
Familie hinzugerechnet, rund 25 Prozent, also ein
7
ganzes Viertel der gesamten Bevólkerung dieser Stádte
aus. Da es die oberste Pflicht fir den modernen:
Staat bedeutet, keinen seiner Angehórigen verhungern
zu lassen, so mu fiir alle diese Unbeschiftigten
die Staatskasse aufkommen. Das bedeutet fiir diese
die Summe von táglich mehreren Millionen, die sich
als reine Ausgabe darstellt, da fiir sie kein wirt-.
schaftlicher Gegenwert eingetauscht wird. Werden
aber die Finanzen des Reichs, der Bundesstaaten
und Kommunen diese Belastung auf die Dauer aus-
halten kónnen? Das ist schlechterdings ausgeschlos-
sen. Nach allen Seiten hin sollen die ¿óffentlichen
Kassen Unsummen zahlen. Die Entschidigungen an
unsere Feinde, die Deckung der Kriegsschiden im
eigenen Lande, die Hinterbliebenen- und Kriegsbe-
échádigtenfirsorge u. s. w., welche lange Klétte von
Schuldposten, die jeder einzelne Betráge darstellt, wie
Sie niemals frihker der Finanzplan eines Staates auf-
wies. Woher sollen alle diese Summen genommen
werden? Die Steuerschraube kann auch nicht end-
los angezogen werden. Denn wo schlieflich nichts
- mehr ist, hat nicht nur der Kaiser, sondern auch die
Republik das Recht verloren.
Den Versuchen, die Arbeitslosigkeit zu beheben,
kann man auch, ohne Pessimist zu sein, einen vóllig
gliicklichen Erfolg nicht prophezeien. Hierhin ge- 20
hórt in erster Linie die Erfiilllung der alten soziali-
stischen Forderung des Achtstundentages. Abgesehen
von der grofen ¡ethischen Wirkung der verkiirztem
'Arbeitszeit, die darin liegt, da der Arbeiter Muñe
gewinnt, sich mit der Ausbildung seiner Persónlichkeit
8
zu befassen, hat man sich von ihr versprochen, daf sie
ermógliche, mehr Menschen Gelegenheit zum Verdienst
zu geben. Gewib ist es selbstverstándlich, daf das
vorhandene Arbeitsquantum sich auf mehr Menschen
verteilt, wenn auf den Einzelnen weniger Arbeitszeit
- wie bisher llommt. [Aber die ¡Erfahrung der Gegenwart
lehrt, dal bei uns die Mittel der Einschránkung “der
- ¡Arbeitszeit es nicht vermag, das Ubel der Arbeits-
losigkeit an der Wurzel zu fassen, und das von dem
franzósischen Sozialisten Lois Blanc gepredigte
¿Recht auf Arbeit” des Einzelnen zu erfillen. Wir
haben ja seit mehrreren Monaten den Achtstundentag
und trotzdem sehen, wir einem starken Prozentsatz der
Bevólkerung gegen seinen Willen notgedrungen feiern.
Von vielen Seiten hórt man darum auch bereits den
Ruf nach dem Sechsstundentag ertónen. Praktisch
» ist ¡aber diese Forderung nicht zu 'verwirklichen. Sollen
fir -eine Arbeit von sechs Stunden dieselben Lóhne
wie friher fir eine 'solche von zwólf oder zehn, gegen-
wártig von acht Stunden gezahlt werden, so muf. dies
entweder zu einer Verteuerung der Warenpreise filhren
oder die Unternehmungen miissen diese Kiosten aus
- ¡hrer eigenen Tasche darauflegen. Beides ist un-
- durchfiihrbar. Ein Steigen der Preise múfte uns jede
Konkurrenzfáhigkeit mit dem Ausland nehmen, ein
- Umstand, den wir zur Zeit mehr denn je vermeiden -
miissen, wáhrend dagegen eine derartige Mehrbelastung
von den Unternehmungen, die infolge der verstárkten
- Besteuerung und der an sich schon erhóhten Lóhne
-— 1hre Zahlungsfáhigkeit eingebift haben, auf die Dauer
nicht ertragen werden kónnte.
Es steht zwar zu erwarten, dafí sobald sich die
politischen Verháltnisse bei uns geklárt haben, insbe-
“sondere aber auch: sobald nach Friedensschlub aus!
dem 'Ausland wieder Rohstoffe nach Deutschland
kommen, die Betriebe den Umfang ihrer Taátigkeit
erweitern und sich damit die 'Arbeitsgelegenheit ver-
mehrt. Aber auch hierdurch kann nur ein Teil und
zwar ein verháltnismibig kleiner Teil der jetzt Ar-
beitslosen Bescháftigung erhalten. Denn einmal mub
man bedenken, daf3 ¿mit Friedensschluf diejenigen
heimkehren werden, die zur Zeit noch als Kriegsge-
fangene in den Lándern unserer Gegner zurúckgehalten
werden. Ihre Zahl betrágt mehrere Hunderttausend;
es wird also mit ihnen dem Arbeitsmarkt ein neues
Igewaltiges Angebot zugefiihrt. Vor allem aber sind
es der besondere Charalkter und die besonderen Griinde
der gegenwártigen Arbeitsnot, die es ausgeschlossen
erscheinen lassen, daf die jetzt Unbescháftigten oder
nicht an dem ihrer Vorbildung entsprechenden Platze
Tátigen mit der Zeit allmáhlich sámtlich im Inland
eine geeignete Arbeitsstátte finden.
Was dem durch den Krieg und seinen ungliick-
"lichen Ausgang hervorgerufenen Mangel an Arbeit
sein neuartiges Gepráge verleiht, ist die Tatsache, dab
alle Berufsstánde von ihm in gleichem Mabe er-
'griffen sind. Wáhrend bisher ein Uberangebot an
IKráften immer nur in einzelnen Berufszweigen auf-
trat, so z. B. die vor dem Kriege vielbehandelte Uber-
fiúllung in den akademischen Berufen, wie Juristen
und Philologen, so ist heute keine Schicht der Bez
vólkerung verschont geblieben. Man denke mur, wie
10
viele Offiziere und Unteroffiziere durch die starke
Einschránkung unseres Heerwesens frei werden. Fiir
den Nachwuchs in der Beamtenschaft aller Rang-
klassen sind die 'Aussichten auf ein Fortkommen die
denkbar schlechtesten. Nicht nur dali die Staatskassem;
an allen Ecken sparen miissen und daher eine Neu-
schaffung von Stellen nicht zu erwarten steht, man will
und mul im Beamtendienst in erster Linie die Kriegs-
beschádigten beriicksichtigen, da zumeist die ruhige
Birotátigkeit fiir sie am geeignetsten erscheint. In
den sogenannten freien Berufen stehen die Verhált-
nisse nicht anders. Die aus der zu grofen Zahl ent-
standene schlechte Lage der Anwálte und Arzte, die
schon vor dem Kriege in stándigen NWarnungen vor
diesen” Berufen zum 'Ausdruck kam, ist womóglich
noch schlimmer geworden. Der Kaufmamnsstand ¡st
so úiberfillt und in seiner Titigkeit dermafen einge-
schránkt, da neulich einer seiner berufensten Ver-
treter alle jungen Leute abmahnte, einen kaufmán;-
nischen Beruf zu ergreifen, da im diesem in Deutsch-
land kaum noch fiir die Halfte 'Angestellte Platz
sei wie vor dem Kriege. Wie wenig ginstig die Aus-
sichten fiir den handarbeitenden Teil der Bevólkerung,
liegen, bedarf bei dem ungliicklichen Zustand, in der
der Krieg unsere Industrie gebracht hat, einer náheren
Erórterung. Es fihrt uns dies zur kurzen Darlegung
der Griinde, weshalb die allgemeine Arbeitsnot eine
so besonders schlimme und unheilbare ist.
Als erster Grund gehórt hierhin die Zahl der
vorhandenen Arbeitskráfte. Diese ist námlich nicht,
ie man zunáchst annehmen sollte, gegeniiber der am
11
1. August 1914 in Deutschland vorhandenen gesunken.
Es kann eher noch ein Zuwachis konstatiert werden;
Die Verluste, die der Krieg gebracht hat, ist lángst
dadurch ausgeglichen worden, dafí ein inzwischen vol!
arbeitsfáhig gewordener Nachwuchs in die Liicke gex
treten ist, insbesondere, aber durch die sehr grofe
Zahl von Deutschien, die der Krieg aus dem Ausland
in die Heimat zurickgefúhrt hat. War doch jeder
wehrfáhige Deutsche in der Fremde nach den Militár-
gesetzen verpflichtet, bei Kriegsausbruch sofort dem:
Rufe des Vaterlands zu folgen und zu den Waffem
zu eilen. Wer nicht in Erfúllung seiner Wehrpflicht
in die alte Heimat mute, der kehrte dorthin zuriick,
weil er aus den 'feindlichen Lándern ausgewliesen:
wurde. Um welche Menschenmassen es sich dabei
handelt, weif jeder, der aus eigener Anschauung nur
einigermaen die Rolle kennt, welche die deutsche
Arbeit im Ausland gespielt hat, die in manchen Lán-
dern und Stádten ganze Berufszweige fast vóllig an
sich gezogen hatte. Als kleines Beispiel mag nur das
Friseurgewerbe dienen, das in London fast ausschlieb-
lich in den Hiánden von Deutschen lag. Alle die
sogenannten 'Auslandsdeutschen befinden sich jetzt
unter uns und suchen in ihrem Vaterland, dem sie
vier Jahre lang mit Gut und Blut gedient haben,
Abit land Unerlamít. Cena, besondere Elli aber
der Umstand ins Gewicht, dal sich unter dem Drucke Y
der Kriegsverháltnisse die Frau Berufen zugewandt
hat, die vorher als Privileg des Mannes erschienen.
Gewif viele hatten nur den leeren Platz eingenommen,
der dadurch entstanden ist, dal die Mánner ihr Ar-
12 E
A SA TA 2
beitsfeld verlassen muften, um Heim und Hof vor
dem Feinde zu schiitzen, und traten in ihre alte Rolle
als Familienmutter und Ehefrau zurick, als die Krie-
ger heimkehrten. Weit gróber aber ist die Zahl der
Frauen, welche die in den besonderen Umstánden des
Krieges ergriffene Bescháftigung fiir ihr Leben bei-
behalten wollen. Die verringerten Heiratsaussichten,
die durch den gróferen Prozentsatz an Frauen, so-
wie durch die schlechten, unsicheren, einer Familien-
griindung ungiinstigen wirtschaftlichen Verhiáltnisse ein-
getreten sind, zwingen sie hierzu. Auferdem verlockt
sie auch die grófere Selbstindigkeit, die ein eigener.
Beruf verschafft. So sehen wir denn neben dem
- Manne auch ein Heer von Frauen, den Kiampf ums
Dasein streiten und die Zahl derer vermehren, die das
- Recht auf Arbeit fiir sich in Anspruch nehmen.
¡Den zweiten Grund gibt die allgemeine schlechte
_wirtschaftliche Lage Deutschlands ab. Der Friedens-
schlulá wird Deutschland endgiltig auch rechtlich von
denjenigen Teilen trennen, die schon jetzt tatsichlich
nicht mehr zu ihm záhlen und ¡hm damit wichtiga
wirtschaftliche Kráfte und bedeutende innerhalb der
Zollschranken liegende Absatzgebiete nehmen. Abge-
sehen davon, daf infolgedessen eine jetzt schon ein-
- —setzende Abwanderung der rein deutschen Elemente;
faus diesen Gegenden nach dem Innern Deutschlanda
stattfinden wird, die dann wieder zur Vermehrung
der Zahl der Arbeitsfáhigen auf deutschem Boden
y - und der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkte fihrt,
wei jedermann, was Elsaf-Lothringen und das Saar-
-becken fir 'unsere «Industrie, was Posen fiir unsere
13
Landwirtschaft bedeutete. Hat doch, um nur ein
Beispiel herauszunehmen, unsere Welt-Monopolstel»
lung in Kali einzig auf den Kalibergwerken Elsaf»
Lothringens beruht. Gerade dieses Exempel des Kali
láft daran denken, wie sehr Deutschland: dadurch an
wirtschaftlicher Macht und Kraft eingebift hat, daf,
infolge der Blockade, die es vom Weltmarkte vóllig
absperrte, die fremden Lánder teils notgedrungen dazw'
ibergingen, diejenigen Rohprodukte und Industrieer»
zeugnisse, die sie bisher aus Deutschland bezogen, bel
sich selbst zu suchen und herzustellen. Dadurch sind
gewaltige deutsche Industriezweige, die viele Tau-
sende bescháftigen, in ihrer Bliite geknickt und ihrer
ehemaligen gebietenden Stellung .beraubt. Hierher
gehórt vor allem die chemische Industrie, in der
Deutschland vor dem Kriege die weitaus fiihrende
'Rolle einnahm, die es wohl fiir immer eingebiift hat,
Es ist selbstverstándlich, daf der Betrieb und damit
die durch ihn gebotene Arbeitsgelegenheit grofe Ein-
schránkungen erfahren mub, fwenn sich der Kreis,
fir den produziert wird, dermafen verengert. So
geht es aber ¡auf fast allen Gebieten, in denen Deutsch-
land fiir einen umfangreichen Export arbeitete. Dazu
kommt noch der Mangel an allen Rohstoffen, Ma-
(schinen und Utensilien, die zur geordneten Durch-
fúhrung der Betriebe unbedingt notwendig ist. Es
fehlt an allem und úberall. In grofen Massen und
zu Preisen, die durch den schlechten Stand unserer
Valuta fir uns noch mehr in die Hóhe getriebe
werden, miissen wir in Menge vom Ausland kaufenl
wollen wir nur erst wieder langsami mit dem Aufbau
14
unserer Industrie beginnen. Wenn diese aber bereits
mit solchen Unkosten ihren Anfang macht, so kann
sie, da sie um iiberhaupt konkurrenzfáhig] zu bleiben,
die Forderungen fiir ihre Produkte móglichst niedrig
setzen mub, . auch nur geringe Lóhne an dia
Arbeitenden zahlen. Also eine Produktion in be-
scheidenem Umfange und unter dem Aufwand geringer
Mittel, das ist das Bild, das sich fiir die náchste
¿ukunft dem deutschen Wirtschafstleben entrollt.
Eine gewaltige Schar von Arbeitswilligen auf
der einen Seite, eine beschránkte Summe von Arbeits-
gelegenheit auf der anderen! Welch anderer Aus-
weg bleibt da, als in dig Ferne zu weisen nach jenen:
Liándern hin, die das bieten kónnen, was viele hier in:
Deutschland vergebens suchen, ein gesichertes Fort-
kommen in der erwáhlten und gelernten Bescháftigung ?
Der Gedanke, dal ein guter Teil von uns Deutschen
zum Wanderstab greifen “muf, um im Ausland die
Zukunft zu suchen, ¡die das geschwáchte, besiegte
Vaterland nicht zu bieten vermag, darf uns nicht
schrecken. Denn diejenigen yon uns, die hinaus-
ziehen, wird der tróstliche Gedanke leiten, dal” sie
so nicht nur sich und den Ihren die Móglichkert
zu einem gesicherten Leben schaffen, sondern dabl
sie auch ihrem Vaterland dadurch “dienen, wenn sie
durch ihren Fleif und ihr Kónnen dazu beitragen,
dem deutschen Namen unter den Vólkern wieder
einen guten Klang zu verschaffen, als die Pioniere
,¡ des neuen Deutschlands.”
15
Kónnen wir auswandern ?
Haben wir eben geschen, daf die Antwort auf
die Frage: Sollen wir auswandemn:?, dahin lautet, dali
die wirtschaftliche Lage Deutschlands einem Teil
der Bevólkerung ein Mússen gebietet, so fragt es sich
- zunáchst weiter, ob denn gegenwártig die Auswande-
rung rechtlich und tatsáchlich iiberhaupt móglich ist.
Hier ist an erster Stelle hervorzuheben, dab vor
Friedensschluf an eine Auswanderung nicht gedacht
werden kann. Bis zu diesem Zeitpunkte mul Deutsch-
land sehen, wie es mit seinem Uberschub. an Arbeits-
fáhigen fertig zu werden vermag. Denn bis dabíin
haben wir die Blockade, die darin, besteht, daf Land
und Leute vollstándig vom Auslande abgesperrt wer-
den. Alle Bemihungen der Waffenstillstand-Kom-
mission, eine frihere Aufhebung dieses Zustandes
herbeizufiihren, sind gescheitert; und wenn neuer-
dings in den Zeitungen davon dig Rede ist, dali Er-
leichterungen fir die Lebensmittelzufuhr geschaffen
17
werden sollen, so bilden diese nur Ausnahmen, wáh-
rend die Blockierung als Regel weiter gilt. Vorder-
hand gibt es also moch keinen Verkehr deutschen
Schiffe nach dem ¡Ausland und eim Deutscher, der
trotzdem eine Reise úiber die See wagt, láuft Gefahr,
in die Hánde des Feindes zu fallen, der ihn dann
trotz des Waffenstillstandes als Kiriegsgefangenen
behandelt. Daf nach dem Friedensschluf der deut-
schen Auswanderung von Seiten unserer jetzigen Geg-
ner Schwierigkeiten bereitet werden, ist nicht zu er-
warten. Ein Interesse, in den Friedensvertrag eine
Bestimmung, welche die Auswanderung aus Deutsch-
land verbietet oder erschwert, aufzunehmen, besteht
nicht fiir sie. Sie werden aller Wahrscheinlichkeitj
nach nicht einmal die ergangenen oder angekiindigten;
Vorschriften, die eine Einwanderung Deutscher in
ihren Lándern verbieten, durchfithren. Wenn auch be-
sonders in Frankreich und Belgien die Hetzpresse
und auch einige besonders chauvinistische Wirtschafts-
kreise immer wieder die Forderung laut werden las-
sen, daf man ¡noch nach Friedensschluf auf lange
Zeit hinaus sowohl das deutsche Volk als Ganzes wie
seinen einzelnen Angehórigen von dem wirtschaft-
lichen Verkehr vóllig ausschliefen miisse, und wenn
sogar dahingehende Mabnahmen, wie z. B. der Be-
schluf der franzósischen und belgischen Gastwirte,
in den náchsten zebn Jahren keinen Deutschen bei
sich aufzunehmen, getroffen worden sind, so kann
man demgegeniber ruhig kaltes Blut bewahren. Man
mub diese Dinge ¡als das nehmen, was sie in Wirk-
lichkeit sind, als Wirkungen des Rache- und Triumph-
18
gefúhls iiber den Besiegten und der Erregung, die
noch aus dem nahen Kriege fortdauert, die aber vor
den Tatsachen des praktischen Lebens keinen Stand
halten. Gescháfte mit uns machen und an uns ver-
dienen, móchten unsere jetzt so unerbittlichen Gegner
doch spáter auch twieder, denn sie miiften Narren
sein, wenn sie sich eines derartig grofen Absatzge-
bietes fiir ihre Waren berauben wollten. Ohne gegen-
seitigen Verkehr und Zutritt láft sich aber kein Han-
del denken. UÚbrigens- wird es auch allen den auf
die dauernde wirtschaftliche Isolierung Deutschlands
-abspielenden Bestrebungen ein Ende setzen, wenn, wie.
€s doch den; Anschein hat, die vierzehn Punkte Wil-
sons, im Vertrauen ¡uf deren Erfillung wir die
Waffen niedergelegt haben, die Grundlage des kiom-
-menden Friedens bilden. Wirtschaftliche Gleichbe-
rechtigung aller Vólker und freier Verkehr dieser
untereinander, lauten ihre Leitsátze. Werden dem-
nach unsere Gegner spáter kein Hindernis fiir die
deutsche Auswanderung abgeben und gewi sogar die
Einwanderung in die jetzt feindlichen Lánder zuge-
stehen, so ist ¿es eine andere Frage, ob diese zu
.empfehlen oder praktisch ¡ddurchfithrbar ist.
Wie verhált sich mun Deutschland selbst zu
seinen auswanderungslustigen Staatsangehórigen? Wie
in allen modernen Staaten, so gilt auch bei uns als
eines der Grundrechte der Einzelperson die Frei-
zigigkeit, das ist die Berechtigung, nach freiem Be-
lieben, ohne obrigkeitliche Beeinflussung, seinen
AWobnsitz wáhlen und 'ihn auch ungehindert jenscits
der Grenzpfáhle verlegen zu kónnen. An diesem
19
2*
Rechte wird selbstverstándlich die neue Verfassung
nichts ándern. Es gibt jedoch Fille, in denen seine
Ausibbung an die Erfillung von gesetzlich genau be-
stimmten Voraussetzungen gekmiipft ist. Allenthalben
hat das Einzelinteresse hinter dem Allgemeinwohl
zuriickzutreten. Dies hat uns der Krieg besonders
deutlich gelehrt, und so wird es auch im' Frieden, vor
allem-in einem sozialistisch gefárbten Staatswesen
heiñen. Die Erledigung der Staatsbirgerpflichten;
bildet die erste Bedingung fiir die Inanspruchnahme
der staatsbirgerlichen Rechte. Deshalb kann auch
nur der von seinem Recht auf Freizigigkeit Gebrauch
machen, der zuvor 'seinen Verpflichtungen gegeniber
seiner Heimat nachgekommen ist. Zwei Pflichten
sind es, die hier vor allem( in Betracht kommen: die
Wehrpflicht und die Steuerpflicht.
Deutschland wird, obwohl es jetzt den vorwie-
gend militárischen Charakter, den es zweifellos bis-
her besa, abgelegt hat, in Zukunft ein geordnetes
_Heerwesen nicht entbehren kónnen. Dieses wird zwar.
in eine Volksmiliz umgewandelt werden, wobel aber
die Tatsache bestehen bleibt, dal jeder gesunde,
mánnliche Deutsche in ihr dienen mub. Bleibt also
die Wehrpflicht, wenn auch in umgestalteter Form,
prinzipiell bestehen, so verlieren auch diejenigen Vor-
schriften micht ihre Kraft, die in Riicksicht auf sie
bei der Auswanderung in Frage kommen. Jeder
Deutsche im Alter von 17 bis 45 Jahre — diese
Altersspanne galt nach bisherigem Rechte als wehr-
pflichtig, — der auswandern will, mubf sie daher
20
kennen und beachtenm. Es handelt sich dabei im
wesentlichen um Folgendes.
Wehrpflichtige, die sich im di vom vollende-
ten 17. bis zum vollendeten 25. Lebensjahre befinden,
kónnen nur auswanídern, wenn sie ein Zeugnis der
Ersatzkommission beibringen, dal ihrer Auswande-
rung aus dem Grunde der Wehrpflicht kein Hinder-
nis entgegen steht. Ohne diese Bescheinigung diirfen
sie von keinem deutschen Schiffe befórdert werden.
Wehrpflichtige, iiber deren Militárpflicht bereits Ent-
scheidung getroffen ist, diirfen iiberhaupt nicht aus-
wandern,
Beurlaubte, Reservisten, Ersatzreservisten, Wehr-
- mánner der Land- oder Seewehr ersten Aufgebots
- Miissen zur Auswanderung die Genehmigung der Mi-
_litárbehórde beibringen. Diese darf ihnen aber nicht
versagt werden, wenn sie zu einer Zeit nachgesucht
wird, in der der Gesuchsteller nicht zum aktiven,
- Dienste einberufen ist. Nur wenn die Auswanderung
mit der Entlassung aus dem Staatsangehórigkeitsver-
háltnis verbunden ist, muf das Bezirkskommando eine
Bescheinigung dariber erteilen, daf der Auswande-
rung eine Einberufung zum aktiven Dienst nicht ent-
gegen steht,
Fiir Wehrmánner der Land- und Seewehr zweiten
Aufgebots geniigt es, wenn sie der zustindigen mili-
tárischen Kontroll-Stelle von ihrem Vorhaben der
- 'Auswanderung Anzeige erstatten.
Offiziere des Beurlaubtenstandes diirfen erst aus-
- wandern, wenn sie aus dem Dienste entlassen sind.
21
Der Verstoló gegen diese Worschriften wird als
sogenamnte ,, Verletzung der Wehrpflicht durch Aus-
wanderung" nach $ 140 des Reichsstrafgesetzbuches
mit Gefángnis bis zu einem Jahre oder mit Geld-
strafe bis zu dreitausend Mark bestraft, Hierbei
kann das Gericht zur Deckung der Kosten des Ver-
fahrens die Beschlagnahme des im Inland befindlichen
Vermógens des Angeschuldigten vornehmen.
Daf jemand, der im aktiven Heere dient, nicht
auswandern darf, ist selbstverstándlich. Bei ¡hn stellt
die Auswanderung das Delikt der Desertation dar,
das nach den Militárgesetzen schwerster Bestrafung
unterliegt.
Der Vollstándigkeit halber mag erwáhnt sein,
dafh Beamte nur auswandern diirfen, wenn ihnen zu-
vor die Entlassung ¡aus dem Dienst erteilt worden ist.
Andernfalls kónnen sie zwar nicht bestraft werden,
sie laufen aber Gefahr, ihrer Anspriiche auf Pension
verlustig zu gehen.
'Auswanderungsbeschránkungen auf Grund der
Wehrpflicht haben von jeher bestanden. Neu ist da-
gegen die Riicksicht auf die Steuerpflicht. Es hángt
dies mit den ungeheuren Lasten zusammen, die der
Krieg uns aufgebirdet hat. Um sie gerecht unter die
einzelnen Volksgenossen zu verteilen, sind sehr hohe
Steuern, zum Teil in der Form von weitgehenden
Vermógensabgaben, motwendig. Die Forderung der
Gerechtigkeit gebietet es natiirlich, daf diese grofen
Eingriffe in das Privatvermógen alle in gleicher Weise
treffen, und dab, jes verhindert wird, dalS Einzelne es
22
versuchen, sich der Teilnahme an den allgemeinen
Lasten zu entzichen. Als bedeutsamstes Mittel hier-
zu kommt die Abwanderung ins Ausland in Frage.
Die Gesetzgebung hat denn auch gleich nach Kriegs-
ende begonnen, der Verschleppung deutscher Ver-
mógen ins Ausland einen Riegel vorzuschieben. Es
hief' dabei in erster Limie Mafnahmen gegen die-
jenigen treffen, die im Verlaufe des Krieges hohe
Verdienste erzielt haben. Die Vermutung, dali: diese
Kriegsgewinnler den Zuwachs an ihreru Vermógen. in
- derselben skrupellosen Weise, wie sie ihn meist er-
rafft haben, nunmehr der Nutzbarmachung fir das
Vaterland zu ,entziehen versuchen, lag sehr nahe.
DaSf, sie dies Vorhaben nicht verwirklichen kónnen,
dafir haben die sogenannten Steuerfluchtgesetze vor-
gesorgt. Die úibrigen gesetzlichen Vorschriften steuer-
rechtlicher Natur, die sich mit der ¡Auswanderung be-
fassen, sind noch nicht abgeschlossen. Es darf aber
angenommen werden, daf ihr Grundgedanke der sein
wird, eine Auswanderung nur unter der Voraussetzung
zu gestatten, dali. der gleiche Vermógensteil, der bei
dauerndem Verbleiben in der Heimat als Steuer ent-
richtet werden miibte, abgegeben wird. Die náheren
_Einzelheiten dieser, sowie der Steuerfluchtgesetz-
gebung sollen spáter in einer besonderen Broschire
zur Darstellung gelangen.
Die Sorge fir das Wohlergehen seiner Ange-
hórigen, ist die vornehmste Aufgabe des Staates. Die-
ser Pflicht leistet er damit nicht allein genúge, dab
er in seinem Gebiete geordnete Zustánde sichert, er
hat auch diejenigen seiner Landeskinder, die in der
23
Heimat ihr Fortkommen nicht mehr zu finden glau-
ben, auf ihrem Wege in die Fremde und auch dort
selbst mit seinem Schutze und seiner Fiirsorge zu
versehen. Die Auswanderung war schon vor dem
Kriege eine Frage, die sámtliche europáische Nationen
fast gleichermafen interessierte. Es ist sogar eines
der Gebiete, in dem: sich ¡hr Gemeinschaftsgefihl am
frihesten in einer gemeinsamen Regelung zusammen-
fand. Neben ¿den internationalen Vereinbarungen,
deren Fortbestand durch den Krieg nicht berihrt wird,
besteht aber iiberall noch eins Reihe einzelstaatlicher
Vorschriften zum Schutze der Auswanderung. Wir.
haben uns mit all diesen Bestimmungen nur insoweit
befabt, als sie fiir den deutschen Auswanderer in
Betracht kommen.
Hierher gehórt in erster Linie das Reichsgesetz
úber das Auswanderungswesen vom 9. Juni 1897. Es
bezweckt vor allem, die grofe Gefahr,zu bannen,
die darin besteht, dali der Auswanderer in die Hiánde
unzuverlássiger oder gar ruchloser, schurkiger Unter-
_ nehmer und Agenten fállt Die Befórderung von
Auswanderern oder die Vermittelung von Auswande-
rungsvertrágen als Agent darf nur betreiben, wem eine
besondere staatliche Erlaubnis, deren Erteilung eine
genaue Priifung der Persónlichkeit vorausgeht, dies
gestattet. Auferdem mul der Nachsuchende eine
Summe von mindestens fiinfzigtausend bezw. fiinf-
zehnhundert Mark zur Sicherhcit hinterlegen. Die
Auswanderungsvertráge bedirfen zu ihrer Gúltigkcit
der Schriftform. Es wird damit verhindert, daf sich
der Vertragsgegner spáter dem Auswanderer gegen-
24
_úúber zu dessen Ungunsten auf irgenid welche miind-
liche Vereimbarungen beruft. In dem Preis fiir die
Uberfahrt ist die volle Bekóstigung und im Krank-
heitsfalle freie árztliche Behandlung einbegriffen. Bei
.etwaigen Verzógerungen, die wáhrend des Verlaufs
der Reise eintreten, hat der Auswanderer Anspruch
auf Unterkunft und Verpflegung, ohne dal eine Nach-
forderung an ihn gestellt werden diirfte. Besonders
segensreich wirkt das Verbot der Vereinbarung, da
der Auswanderer am Bestimmungsort durch Arbeit das
Uberfahrtsgeld abverdiene, oder der Bedingung, dab
der Transport nur dann úibernommen wird, wenn der
Auswanderer an einem bestimmten Platze seinen
Wohnsitz zu nehmen sich verpflichtet.
Besondere Vorschriften sind auch von reichs-
wegen úber die Auswandererschiffe ergangen. Sie
miissen besonders sicher und seetiichtig sein, in jeder
Beziehung den modernen, sanitáren und hygienischen
Anforderungen entsprechen, mit allen Rettungsmitteln
fiir den Eintritt von Seenot versehen sein. Auf jedem
-Schiff mul sich ein Schiffsarzt, ein gelernter Kran-
- kenpfleger und ein erfahrener Koch befinden. Die *
Bekóstigung der Auswanderer hat in táglich “drei
regelmábigen, gehórig zubereiteten Mahlzeiten zu be-
stehen. Die ganze Auswandererbefórderung wird von
einer aus fiinfzehn Mitgliedern besteheniden Kom-
mission mit dem Sitze in Berlin iiberwacht, der be-
sondere, in jedem Auswandererhafen befindliche
Reichs-Kommissare zur Seite stehen.
'Der Schutz des Auswanderers im Ausland selbst
stellt eine der Aufgaben der deutschen diplomatischen
25
Vertreter dar. Won diesen kennen wir zwei Arten:
den Gesandten und den Konsul. Die Titigkeit des
ersteren ist mehr politischer, des letzteren mehr wirt-
schaftlicher Natur. Beide vermitteln aber in glei-
cher Weise fiir den Deutschen in der Fremde den
Verkehr mit den Staatsbehórden der Heimat, und an
sie hat er sich zu wenden, wenn er die Hilfe des
Vaterlandes in Anspruch nehmen will. Ihre Pflicht
ist es auch, im Falle einer Kránkung und Verletzung
eines Deutschen sich an die Regierung des Aufent-
haltsstaates zu wenden, um Siúbne und Genugtuung
zu erreichen. Das verlangt nicht nur ihre Schutz-
pflicht gegeniiber ihrem Volksgenossen, sondern auch
die Wiirde des Landes, das sie entsandt hat, denm
in jedem seinem Staatsbiirger wird auch der Staat
selbst getroffen. In einigen iberseeischen Lándern
bilden ibrigens die Gesandtschaften und Konsulate
auch die freiwillige Gerichtsbehórde. Das heibt, dab
sie fiir die Deutschen des betreffenden Landes die
Geburts-, Heirats-, Sterbe-Gúterrechts-Register fih-
ren, das Vormundschaftsgericht darstellen, Beurkun-
dungen vornehmen, und die Funktionen des Standes-
beamten bei Eheschliefungen versehen. :
Von den einschlágigen internationalen Verein-
barungen die wichtigste betrifft die Bekámpfung des
internationalen Mádchenhandels. Es 'bestand eine,
heute noch nicht vóllig ausgerottete, weltverzweigte
Organisation, die ihr Gescháft daraus machte, die
Stellungslosigkeit, den Leichtsinn und die Unerfah-
renheit junger Mádchen auszubeuten. Unter der Vor-
spiegelung, ihnen leichte und lohnende Arbeit zu ver-
26
schaffen, wurden sie ins Ausland gelockt, um sie
dort, die in ihrer Unkenntnis der fremden Sprache
und der fremden Verháltnisse vóllig wehrlos waren,
der Unzucht zuzufiihren. NWieviel Tausende junge
Europáerinnen sind auf diese Weise in den dunkeln
Hiáusern der neuen Welt, insbesondere Argentiniens
und Brasiliens, verschwunden! Zur Bekámpfung die-
ses abscheulichsten aller Gewerbe, das einen Schand-
fleck fiir die ganze Welt darstellt, haben sich die
Kulturstaaten zusammengefunden und in dem Abkom-
men vom Jahre 1904 die Richtlinien ihres gemein-
samen- Vorgehens gegen den Mádchenhandel festge-
legt. Sie haben sich verpflichtet, durch besondere
Behórden eine stándige Uberwachung der Bahnhófe,
der Einschiffungsháfen und derjenigen Biiros und
Agenturen, die sich damit befassen, Frauen und Mád-
chen Stellen ins ¡Ausland zu vermitteln, ausiiben zu
lassen, sowie den weiblichen Personen, die in die
Gewalt von Mádchenhindlern geraten sind, die Heim-
kehr zu ermóglichen. Daneben sind in den einzelnen
Staaten Strafbestimmungen ergangen, die den Mád-
dE (chenhandel aufs schwerste bedrohen. So hat Deutsch-
land in $ 48 des Auswanderungsgesetzes angeordnet,
daf mit Zuchthaus bis zu fiinf Jahren, Verlust der
birgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter Polizei-
aufsicht bestraft wird, ,,wer eine Frauensperson zu
dem Zwecke, sie der gewerbsmábigen Unzucht zu-
zufiihren, mittels arglistiger Werschweigung dieses
Zweckes zur ¡Auswanderung verleitet, oder wer in
Kenntnis des von einem anderen in solcher Weise
27
verfolgten Zweckes die Auswanderung der Frauens-
person vorsátzlich befórdert.”
Das Reich steht seinen auswanderungslustigen
Angehórigen nicht nur schiitzend, sondern auch be-
ratend zur Seite. Das ,,Auswártige Amt“ in Berlin
ist zu jeder Art von Auskunftserteilung bereit. Dort-
hin kann sich ein jeder wenden, der úber Einzel-
heiten eines fremden Landes, insbesondere auch úiber
die Aussichten auf ein Fortkommen in seinem Be-
rufe dorten Aufschluf erhalten will: Die Gesand-
schaften und Konsulate 'sind angewiesen, regelmábig
Bericht zu erstatten úiber die Verhiltnisse, die sich .
deutschen Einwanderern in den Lándern ihres Amts-
sitzes bieten. Eine unmittelbare Auskunft an den
Anfragenden erteilen diese Behórden selbst nicht.
Die Antwort geht vielmehr immer durch das Aus-
wártige Amt, so daf es schon aus Griinden der Ein-
fachheit ratsamer ist, sich nur an das ,Auswártigo
Amt” und nicht an die ¡hm unterstellten Behórden
im Ausland zu wenden. Selbstredend sind auch die
in Deutschland befindlichen Gesandschaften und Kon:
sulate der fremden ¡Staaten jederzeit bereit, náhere
Mitteilungen iiber ihr Land und dessen Verháltnisse
zu geben. Freilich ist ihrer Erklárung weniger un-
eingeschránktes Vertrauen zu schenken, als der der
deutschen Behórden, bei denen lediglich das Wohl
und Wehe des keutschen Auswanderer in Frage
kommt, wáhrend, den auslándischen Beamten gar zu
leicht vor allem das Interesse seines eigenen Staates
leiten wird.
28
Bei dem Umfang, den die deutsche 'Auswanderung
in den letzten Jahrzehnten angenommen hat, und bei
ihrer Bedeutung fiir das gesamte Deutschtum, hatte
man in Vorschlag gebracht, cine besondere staat-
liche Auskunftsstelle fiir Auswanderer zu errichten
Man ist schlieflich davon abgekommen, sondern hat
sich damit begnigt, der ,Zentral-Auskunftsstelle fir
Auswanderer” die seitens der deutschen Kolonialge-
sellschaft geschaffen wurde, einen Zuschub von Reichs,
_wegen zu zahlen. Diese Stelle mit ihrem Sitze in
Berlin befabte sich in erster Linie mit Auskunfts-
-ertellung an diejenigen, die nach unseren frihe-
ren Kolonien gehen wollten, gab aber auch Aufklárung
und Mitteilung iiber andere úiberseeische Gebiete, be-
3 -_sonders auch iiber Siidamerika. Sie stellt das wich-
tigste Auskunftsmittel fiir die deutschen Auswande-
rungslustigen dar. Das Material, das sie ihren Aus-
kiinften zu Grunde legt, beruht auf genauen Beobach-
- tungen und Erkundigungen. Die deutschen Auslands-
behórden sind angewiesen, dieser Stelle genaue Be-
richte iiber alle sie interessierenden wichtigen Ein-
_ zelheiten zu erstatten. Die Auskiinfte erfolgen kosten-
los auf schriftlichem oder miindlichem Wege. Es
besteht auferdem im Reichsgebiet eine Reihe von
- Zweigstellen, die zur miindlichen Auskunfterteilung
bestimmt sind, die sie auf Grund genauer Informa-
tionen der Berliner Zentrale geben.
Neben dieser Zentralauskunftsstelle fiir Auswan-
derer in Berlin gibt es noch mehrere private Verei-
nigungen, die sich mit der Raterteilung ¡an Auswanderer
befassen, die zwar meist mit der Zentralauskunfts-
29
stelle in Verbindung stehen, aber auch daneben selbst-
stándig arbeiten. Es sind dies:
1.) Der Evangelische Hauptverein fir deutsche
Ansiedler und Auswanderer in Witzenhausen
an der Werra.
2.) Der St. Raphaelsverein zum Schutze katho-
lischer deutscher Auswanderer in Limburg
a. d. Lahn.
3.) Der Zentralverein fiir Handelsgeographie und
Fórderung deutscher Interessen im Auslande
in Berlin.
4.) Die Offentliche Auskunftsstelle fiir Auswan-
derer in Dresden.
5.) Der Deutschbrasilianische Verein in Berlin.
6.) Die Weltkorrespondenz in Berlin.
Es handelt sich hierbei um gemeinniitzige: Unter-
nehmungen, die lediglich zum Schutze des deutschen
Auswanderers tátig sind. Natiirlich erhált man auch
in allen Biiros der Gesellschaften, welche die Befór=
derung der 'Auswanderer geschiftsmábig betreiben,
náhere Auskiinfte. Diese ¡Auskunft soll aber nach
dem Auswanderungsgesetz nur auf Anfrage erfolgen.
Man will damit vermeiden, dal der Versuch gemacht
wird, aus gewinnsiichtigen Griinden Deutsche zur Aus-
wanderung aus ihrem Vaterlande zu bewegen.
Wenn die Tátigkeit der privaten Auskunftsstellen
auch ¡anerkannt werden mul, so gewinnt doch die schon
30
fribher erhobene Forderung nach der Schaffung einer
staatlichen Zentrale fiir “das gesamte deutsche Aus-
wanderungswesens angesichts des grofen Umfangs,
den die Auswanderung aus Deutschland infolge des
Kriegsausganges nehmen wird, immer mehr an Be-
rechtigung. Was auch von privater Seite geleistet
wird, sie kann doch niemals das erreichen, was ein
mit staatlichem Zwang versehenes ,,Auswanderungs-
amt" durchzufiihren vermag, das alle Fragen und
Zweige des Auswanderungswesens zusammen erledigt;
die Auskunftserteilung, die Beaufsichtigung der Be-
fórderungsunternehmungen und die Befórderungsmittel,
den Kampf gegen den Mádchenhandel und den Schutz
der Deutschen im Ausland. Die schleunige Bildung
einer solchen Behórde liegt deshalb gleicherweise im
Interesse des Reiches wie des deutschen Auswan-
derers. : : :
Es sei noch mit wenigen Worten der Bedeutung
der Auswanderung fiir die Frage der Zugehórigkeit
zum deutschen Staatsverband gedacht. Diese ist inso-
fern von grofer Bedeutung, als nur sie den Schutz
des deutschen Reiches im Ausland verbiirgt und die
Pflichten gegen das Vaterland, wie z. B. die Heeres-
pflicht bei Kriegsausbruch fortbestehen láft. Geregelt
ist die Frage der Staatsangehórigkeit durch das
Reichs- und Staatsangehórigkeitsgesetz von 1913. Da-
nach tritt ein Verlust der deutschen Staatsangehórigkeit
durch blofe Ubersiedelung ins 'Ausland nicht ein.
Auch die fribhere Bestimmung, dali zehnjáhriger Aus-
landsaufenthalt diesen Verlust herbeifiihrte, besteht
nicht mehr. Da iiberdies die Kinder nach deutschem
31
Recht die Staatsangehórigkeit der Eltern erwerben,
so kann eine Familie durch Generationen als Deutsche
im Ausland leben. “Freilich kann die Tatsache, daf
die Kinder ihren Eltern in der Staatsangehórigkeit
folgen, dadurch zu Schwierigkeiten fiihren, dali, viele
Lánder alle auf ihrem Boden Geborenen als ihre
Staatsangehórigen behandeln. Hieraus entstehen die
Fille der doppelten Staatsangehórigkeiten. Personen
mit solch mehrfacher Staatsangehórigkeit, die soge-
nannten sujets mixtes kommen leicht in Konflikte
insbesondere, wenn beide Staaten die Erfiillung der
Dienstpflicht von ihnen verlangen. Die internationale
Regelung auf diesem Gebiet ist noch nicht abge-
schlossen. :
Die Griinde, aus denen man die deutsche Staats-
angehórigkeit verliert, sind im Gesetz genau bestimmt
und aufgezáhlt Der normale Weg ist der der Ent-
lassung, die auf Ansuchen durch die hóhere Verwal-
tungsbehórde des Heimatsbundesstaates durch Aus-
hándigung einer Entlassungsurkunde erfolgt. Voraus-
setzung bildet die Regelung der Militárverháltnisse.
Die Entlassung umfabt die Ehefrau und die minder-
jáhrigen Kinder. Ohne Mitwirlung der Behórden
vollzieht sich das Ausscheiden aus dem deutschen
Staatsverband bei dem, der sich ins Ausland begeben
hat, um sich der Wehrpflicht zu entzichen, mit der
Vollendung des einunddreifigsten Lebensjahres. Das
gleiche gilt fiir den, dem: auf seinen Antrag von einem
auslándischen Staate die Staatsangehórigkeit gewáhrt
wird. Mit dem Erwerb einer auswártigen Staats-
angehórigkeit durch Geburt hat dies nichts zu tun.
32
Eine deutsche Frau, die einen Auslánder heiratet,
scheidet mit der Verchelichung ohne weiteres aus dem
deutschen Staatsverbande aus und tritt in den ihres
Gatten ein. Im ibrigen erfolgt der Verlust durch
einscitigen Ausspruch der Behórde und zwar in zwei
Fallen, námlich, wenn im Kriegsfalle ein Auslands-
deutscher der Aufforderung zum Heeresdienst, obwohl
er hierzu im stande ist, nicht nachkommt, oder wenn
ein Deutscher ohne Erlaubnis seiner Regierung in
auslándischen Staatsdienst tritt. Es missen daher
alle, die im Ausland einen staatlichen Posten z. B.
als Instrukteure in der Armee oder als Lehrer an
staatlichen Anstalten annehmen, vorher die Erlaubnis
von Seiten Deutschlands hierzu einholen, wollen sie
nicht Gefahr laufen, anderenfalls ihre deutsche Staats-
angehórigkeit zu verlieren.
33
Wohin sollen wir auswandern ?
Wer den Gedanken in sich' trágt, auswandern zu
wollen, der mul sich vor allem dariber durchaus im
klaren sein, dali die Auswanderung etwas ganz anderes
bedeutet als eine blofe MWohnungsánderung. Wer
seinen Wohnsitz im Inland verlegt — und sei es auch
aus dem Norden nach dem ¿ubersten Siden — der
wird doch, abgesehen von dem kleinen Unterschied
in der Lebensfibhrung und Lebensauffassung, der sich
aus der Verschiedenheit des Charakters und des Tem-
peraments der einzelnen «deutschen Stámme ergibt,
eine wesentliche Veránderung icht spiiren und rasch
heimisch werden. Er findet Menschen vor, welche
dieselbe Sprache wie er sprechen, die wie er erzogen
sind und die gleiche Kultur wie er besitzen. Die
Formen, in denen sich der Gescháfts- und Handels-
verkehr, die Geselligkeit etc., kurz das ganze Dasein
abspielt, sind ¡hm vertraut. 'All dies verhált sich
vóllig anders bei einer Auswanderung ins Ausland,
Hier steht der ¡Ankómmling plótzlich ganz neuen
Verhiltnissen gegeniiber. Es ¡ist bekannt, wie sehr den
35
gr
Mensch von der Gewohnheit abhángt, und wie schwer
es ihm fallt, das alte Geleise zu verlassen, um sich
neuen Lebensbedingungen anzupassen. Dies ist der
Grund, weshalb man, nur dem zur ¡'Auswanderungl
raten darf, der genúgend Frische und Elastizitát
in sich spirt, um sein Fihlen und Denken auf eine
neue Daseinsform einstellen zu kónnen. Wer dies
nicht vermag, der wird in der Fremde niemals die
ersehnte neue Heimat finden, ihn wird das Heimweh
wie ein Bleigewicht zu Boden driicken und ihn an
seinem Fortkommen hindern. Denn nur wo man sich
wohl fihlt, kann man seine Kráfte voll entfalten.
Einer Anspannung aller Energie und aller Sinne
bedarf es aber selbst fiir den Wagemutigsten und
- Entschlossensten, der ein fremdes Land mit dem
Vorsatze betritt, sich dort eine Existenz zu schaffen.
Auch ihn wird die Fille des Neuartigen, das von
allen Seiten auf ihn eindringt, zunáchst fast be-
táuben. Jedermann weif, wie peinlich und unan-
genehm meist die” ersten Augenblicke zu sein pfle-
gen, wenn man in einer fremden Umgebung in einen
Kreis fremder Menschen gerát und Fúblung mit ¡hm
nehmen soll. Es dauert dann immer eine gewisse
Zeit, bis die anfángliche gegenscitigo Kálte weicht
und man warm zu werden beginnt. Bisweilen stellt
das Gefihl des Wohlbehagens in einem 'Kreise sich
úberhaupt nicht ein, und man ist froh, ihm móglichst
bald wieder zu entrinnen. Es hiángt dies einmal
davon ab, ob man freundlich oder kiihl aufgenommen'
wird, ob die ungewohnte Umgebung zu einem pat
36
und ob man die nótigen Eigenschaften mitbringt, die
neuen Bekannten zu werstehien und ihre Interessen teilen
zu kónnen. Um unliebsamen Uberraschungen und
Enttáuschungen vorzubeugen, tut man deshalb gut,
sich vor der (Auswanderung ein móglichst. klares
Bild zu verschaffen, damit man weib, was man er-
-warten und hoffen darf und micht nachtráglich eine
sorglose und unbedachte Ubercilung bitter zu bereuen
hat. Die Auswahl des Landes, das man sich zum
- Ziel nehmen will, darf nur das Ergebnis reiflicher
Uberlegung auf Grund genauester Erkundigungen sein.
Eine ganze Reihe schwerwiegender Momente faállt
hierbei ins Gewicht. :
Zunáchst kommen nur solche Lánder ganz all-
- gemein Fir die Auswanderung in Frage, die nicht
selbst einen Uberschub an Arbeitskráften aufwelsen.
Besteht námlich in einem Staate kein Bedirfnis nach
einem Zuzug aus der Fremde, soi wird er sich diesen
entweder durch HEinwanderungserschwerungen fern-
halten, oder wenn er sein Land gegen Einwanderer
auch nicht absperrt, doch nicht in der Lage sein,
ihnen die Móglichkeit zum Lebensunterhalt zu ver-
schaffen, Andere Staaten kónnen Einwanderer zwar
aufnehmen und auch hinreichend bescháftigen, trotz-
- dem sollen aber 'Angehórige bestimmter Rassen oder
Lánder nicht zuziehen, weil die nationale Feind-
schaft, die gegen ihre Heimat besteht, sie auf den
HaS der Bevólkerung stoñen láft und sie dadurch von
einem Zusammenleben mit ihr ausgeschlossen bleiben.
Neben diesen Erwágungen ¡allgemeiner Natur hat
sich der Einzelne zu vergewissern, ob das von ¡hm
37
in Betracht gezogene Land gerade fiir seinen spe-
ziellen Beruf Aussichten bietet, vor allem aber, ob
die dortigen á¿uferen Lebensbedingungen, wie Klima,
Gesundheitsverháltnisse etc. fiir 1hn passen.
Betrachtet man von diesen Gesichtspunkten aus
die fremden Lánder, so wird man finden, dal. ihrer
nur wenige geeignet sind, dem deutschen Auswanderer
als Ziel zu dienen. Die stolzen Hoffnungen, die man:
an eme NWirtschaftsgemeinschaft mit dem Osten:
kniipfte, die in den Schlagworten ,Mitteleuropa””
und ,,Berlin-Bagdad” ihren Ausdruck fanden, sind
im selben Augenblicke in Nichts zerronnen, als sich
Bulgarien aus dem Bundesverháltnis lóste. Die Bag-
dadbahn, ein Unternehmen, das fast ausschlieflich'
von deutschem Kapital betrieben wurde, sollte den
Weg bilden, deutschen Fleif nach dem Orient zu
leiten, und das industriell und landwirtschaftlich noch
kaum erschlossenen Mesopotamien mit all seinen
Reichtiimern hátte ein herrliches Siedelungsgebiet fiir
Deutsche abgegeben. Hier “aber hat sich jetzt der
Englánder festgesetzt und wird dieses Kleimod' von
Land als neue Perle der Kette seiner Kolonien:
einfiigen. Auch die Lánder unserer ehemaligen
Kampfgenossen, der Tiirken und Bulgaren, die man
als gewaltige Durchgangsstrafe nach dem Osten auch:
im Frieden durch ein enges Band gemeinsamer wirt-
schaftlicher Interessen dauernd an uns zu fesseln ge-
dachte, wáren ein weites Arbeitsfeld fiir uns Deutsche
geworden. Angehórige aller Berufsstánde, vom Offi-
zier, Arzt, Verwaltungsbeamten bis zum Facharbeiter
jeder Art, wáren in dem aufstrebenden, entwicklungs-
38
freudigen jungen Slavenreiche ebenso hochwillkom-
mene Gáste gewesen, wie in der Tiirkei, die geradel
im Begriffe stand, ihr altes islamitisches Kultur-,
Staats- und Wirtschaftsleben aufzugeben und in mo-
derne, europáische Formen zu kleiden, wozu sie auf
allen Gebieten Lehrmeister und Helfer benótigte.
Diese Lánder sind infolge der geringen inneren Fe-
stigkcit ihres Staatswesens, durch den ungliicklichen
Ausgang des Krieges womóglich noch mehr zusammen-
gebrochen als unser Vaterland. Die Tiirkei hat sogar
bereits den Staatsbankerott erkláren miissen. Beide
sind finanziell und politisch vóllig von der Gnade
der Entente abhángig, in deren Hánde die eigentliche
Verwaltung auch nach dem Friedensschlusse liegen
wird. Diese wird natirlich auch alles daran setzen,
sich die Ausbeute aller wirtschaftlichen Vorteile, die
sich in jenen Lándern Fremden bieten, in Zukunft zu
sichern, so dab> auch hier der Deutsche keinen Platz
mehr findet.
Rubland bot vor dem Eg den Auslándern,
ein reiches Arbeitsgebiet. Die Schwerfálligkeit und
Untátigkeit seiner Regierung und die +Trágheit seinen
Bevólkerung úberlieñen es im grofen Umfange der
fremden Tatkraft und Unternehmungslust, die gewal-
tigen Schátze zu heben, die das weite Reich birgt.
: Angehórigo fast aller europáischen Nationen
hatten hierzu Kapital und Arbeit zur Verfiigung ge-
stellt. Ein grofer Anteil entfiel dabei auf Deutsch-
land. Eine ganze Reihe der wichtigsten Erz- und
Eisenhiitten Polens und Westrublands waren in deut-
schem Besitz und wurden von deutschen Ingenieuren,
39
und Beamten geleitet. Der deutsche Kaufmann, der
fiir deutsche Interessen reiste oder von stándiger
Niederlassung aus fiir sie tátig war, war ein in Ruf-
land allbekannter Typus geworden. Am deutlichsten
wird die Bedeutung, die dem deutschen Element zu-
kam, dadurch charakterisiert, da der Russe in sel-
nem Sprachgebrauche ,deutsch” und ,,fremd” mit der-
selben Bezeichnung belegte. So iiberwiegend trat
ihm das Fremde in der Gestalt des Deutschen ent-
gegen. Was von Jen glánzenden Zukunftshoffnungen,
zu denen das russische Land mit seinen Schátzen
berechtigte, der Bolschewismus úbrig gelassen hat, ist
“Eur Zeit noch nicht zu iibersehen. Die spárlichen
Nachrichten, die zu uns heriiber dringen, geben ein
sehr tribes Bild. Soviel steht jedenfalls jetzt schon
fest, dal sich in absehbarer Zeit eine Neuordnung
der Dinge in Rubland, die eine Ansiedlung dort er-
móglichen kónnte, nicht erwarten láft. In dem durch
den Krieg zu neuem eigenen staatlichen Dasein er-
wachten Polen liegert die Verháltnisse an sich besser.
Der nationale Haf seiner Bevólkerung gegen alles,
was deutsch heibt, schneidet aber auch hier dem Deut-
schen die ¡Aussicht auf ein Fortkommen 'ab. Die Rolle,
die unter der russischen Herrschaft das Deutschtum,
in der polnischen Industrie spielte, wird wohl jetzt
an Frankreich, in dem die Polen von jeher ihr Vor-
bild in kultureller Bezichung erblickten, ibergehen.
Ubrigens wird das neue Staátswesen fiir fremdrassige
Einwanderer gar keinen Raum bieten. Solange Polen
nur eine russische Provinz war, stand es unter den
Auswandererlándern der Erde an erster Stelle. Die
politische und wirtschaftliche Not, die der Zarismus
40
iiber die Bevólkerung gebracht hatte, war die Veran-
lassung dazu. Jetzt, nachdem das verhafte Joch
_abgeschittelt ist, und das alte Polen zu neuem:
Glanze zu erstehen scheint, ergieft sich ein
Strom von Riickwanderern in die alte Heimat. Ihre
_Zahl wird einschlieflich der Tschechen, deren poli-
tische Situation die gleiche ist, allein aus den Uber-
seelándern bis zum Ende 1918 auf annáhernd drei
Millionen angegeben.
In den Lándern unserer Feinde waren, wie schon
friher erwáhnt, bis zum Kriegsausbruch Deutsche
aller Berufsklassen in grofer Zahl ansássig. Das
allgemeine Aufenthaltsverbot, das zur Zeit fiir sie in,
diesen Staaten besteht, wird der Friedensschlub be-
seitigen. Man erwartet dies von der internationalen
Regelung des Arbeitsrechtes, die durch den Friedens-
vertrag erfolgen soll, bei der als oberster Grundsatz
vóllige Freizigigkeit gefordert wird. Trotzdem kón-
nen wenigstens in den náchsten Jahren Deutsche «nicht
daran denken, sich in den Ententelándern. niederzu-
lassen. Das Ubermab von Erbitterung und HaS, mit.
dem unsere Gegner den Krieg gefiihrt haben, wird
mit seinem Ende nicht auf einmal verschwinden. Da-
zu haben ihre Bemibhungen, bei ihrer Bevólkerung,
alles, was deutsch heibt, als verabscheuungswert und
barbarisch hinzustellen, viel zu gut gewirkt. Mit ver-
schwindenden Ausnahmen atmet aus der feindlichen
Presse, dem besten Kennzeichen der Volksstimmung,
ein Geist der Rachsucht, der eine Versóhnung in ab-
sehbarer Zeit ausschlieBt. Wenn man uns úiberhaupt
wieder an dem Verkehr der Vólker teilnehmen láÑt,
41
so wird dies nur in einem solchen Umfange statt-
finden, wie er eben gerade noch zur Aufrechterhal-
tung der Handelsbeziehungen ausreicht. Selbst der
Umstand, daf wir die Besiegten sind, wird hieran
nichts ándern. Den siegreichen Deutschen hátte man,
wenn auch záhneknirschend, empfangen und aufgenom-
men, den Besiegten erwartet im erfolgreichen Aus-
lande nur Demiitigung und Zuriicksetzung. Das gleiche
wie fiir das europáische Gebiet gilt auch fiir die
Koloniallinder unserer Gegner. Auch sie kommen
als Auswanderungsziel nicht mehr in Betracht. Dreil
von ihnen, Kanada, Australien und Súdafrika, waren
dies friiher in hohem Mafe, da: sie dem Einwanderer
zum Teil glánzende ¡Aussichten boten. Aber auch
hier stóNt man auf dieselbe deutschfeindliche Stim-
mung wie auf dem Kontinent. England kann es sich
als einen neuen grofen Erfolg seiner Kolonialpolitik
buchen, daf es seiner vortrefflich geleiteten Propa-
ganda gelungen ist, der Bevólkerung dieser iibersee-
ischen Lánder, die ¡uns Deutschen freundlich, zum
mindesten aber gleichgiiltig gegeniiberstand, einen Hab,
einzutreiben, der den im Mutterlande herrschenden
womóglich noch ¡ibersteigt. Erschien es uns doch!
fast als ein Wunder, dab die friheren Burenrepubli-
ken, die wiáhrend ihres Freiheitskampfes mit Eng-
land wohl nirgends soviel offene Sympathie gefun-
den hatten wie bei uns, sich mit unverkennbarer Be-
geisterung dem Kampf gegen uns anschlossem. Wie
mancher unter uns mag sich erstaunt gefragt haben,
wie es denn kommt, daf Australien, das nie etwas
Bóses von uns erfahren hatte, in seinem Premier-
42
.
minister einen der fanatischsten Hetzer gegen Deutsch-
land stellte. Wieder einmal miissen wir zu unserem
Schaden anerkennen, was England in der Kunst der
Behandlung fremder Vólker zu leisten vermag.
Das Schicksal unserer eigenen. friheren Kolonien
ist noch nicht entschieden. Da sie nicht wieder unter
ausschlieflich deutsche Herrschaft gelangen, steht
schon so gut wie fest. Giinstigsten Falles werden
sie internationalisiert. Hierbei «wird die Verwaltung
in den Hiánden internationaler Kommissionen liegen,
in denen dann aber unsere Gegner die entscheidenden
Stimmen besitzen. Ob also unsere friiheren Kolomien
in Zukunft weiter geeignet erscheinen, den Strom der
deutschen ¡Auswanderer aufzunehmen, mub noch da-
hingestellt bleiben. Endgúltig eingebift haben wir
wohl mit unserem Pachtgebiet Kiautschou die 'Aussicht
auf Erfillung all der stolzen Hoffnungen, daf es
gelingen werde, den fernen Osten von diesem Muster
eines Kolonialgebietes aus fir Deutschland wirtschaft-
lich zu erobern und im weiten Reiche der Mitte ein
Absatzgebiet fir unsere Waren und ein ginstiges
Siedelungsgebiet fir unsere Volksgenossen zu schaf-
fen. Nun ist Japan in die von uns gecbnete Bahn
- getreten.
Der weitaus grófte Prozentsatz der Auswan-
derer sah friiher sein Ziel in Nordamerika. Anschei-
nend wollen aber die Vereinigten Staaten den ersten
Platz unter den Einwanderungslándern der Erde nicht
lánger beanspruchen. Es ist nicht die Stimmung der
Bevólkerung, die uns Deutsche von dort fernhált.
Der Amerikaner ist derjenige unserer Gegner, der
43
am wenigsten die Feindschaft gegen den Staat auf
dessen einzelne Angehórige iibertragen hat. Seine
Abneigung gegen eine Fortdauer der Einwanderung
trat schon vor «dem Kriege in einer Erschwerung der
Einwanderungsbedingungen zu Tage. Der frihere
Mangel an Arbeitskráften war behoben, und man
konnte dazu úbergehen, eine genaue Auswahl derer
zu treffen, die man als neue Birger aufnehmen wollte.
Selbst die vorhin erwáhnte Riickwanderung der Sla-
wen in ihre alte europáische Heimat scheint eine fiihl-
bare Liicke nicht gerissen und keimen Bedarf nach
Zuzug geschaffen zu haben. Sonst wáre es unerklir-
lich, daf nach den neuesten Mitteilungen die Ein-
wanderungskommission zur Zeit dem Reprásentanten-
hause, der hóchsten gesetzgebenden Behórde, den
Entwurf zu einem Gesetze vorgelegt hat, das ein Ein-
wanderungsverbot fiir vier Jahre nach dem Kriege
vorsieht, und dab dieser Vorschlag die allgemeine
Zustimmung aller Bevólkerungskreise gefunden hat.
Wird dieser Entwurf, was zu erwarten ist, Gesetz,
so scheidet auch Amerika aus der Reihe der fiir die
Auswanderung in Betracht kommenden Lánder aus.
Ubrig bleibt somit nur noch Siiddamerika. * Hier
wird wohl auch die Státte der Zukunft fiir den deut-
schen Auswanderer liegen. Alle die Griinde, die bel
den úbrigen Liándern dazu fúhrten, den Deutschen
vor einer Niederlassung zu warnen, treffen bei der
Mehrzahl der Republiken, welche die Karte von Siid-
amerika aufweist, nicht zu. Sind auch einige unter
ihnen in den Kriegszustand mit uns getreten oder haben
die diplomatischen Beziehungen zu uns abgebrochen,
44
A TRA
so ist hier noch fast weniger als in den Vereinigten
Staaten zu fiirchten, daf als Folge eine gehissige
Stimmung der Bevólkerung gegen die Deutschen zu-
rúckbleibt. Geschickte Agenten der Entente haben
es verstanden, die leicht erregbare Leidenschaftlich-
keit dieser Siidlánder gegen uns zu entziinden. In
die Tiefe geht dieser kiinstlich erzeugte Hab. nicht.
Dazu fehlt es an einem greifbaren Grund fiir ibn.
Abgesehen von der Versenkung einer geringen Zabhl
von Schiffen, fiir die ihnen volle Entschádigung wer-
den wird, haben diese Staaten durch den Krieg nicht
gelitten. Wirstchaftlicher Konkurrenzneid, der z. B.
in England und Frankreich vor dem Kriege schon
ho - die Abneigung gegen das Deutsche schuf, kommt bei
ihnen nicht in Frage. Sie haben vielmehr stets in den
-besten wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland
gestanden, die sich vor allem in einem regen gegen-
seltigen Austausch von Gitern áuberten. Sie wer-
den auch jetzt nach dem Friedensschlub/ in Deutsch-
land einen ganz besonders guten Kunden finden.
Durch die jahrelange Absperrung ist dieses von den
vielen Rohmaterialien und Kolonialerzeugnissen, die
es aus den siidamerikanischen Lándem bezog, vóllig
entbloft. Zur Deckung dieses Bedarfs wird der
Export in sehr starkem Mabe einsetzen und seine
Durchfiihrung viele deutsche Kaufleute nach Siid-
amerika ziehen. So lift die unausbleibliche schnelle
Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen nach dem
Kriege auch eine baldige Wiederannáherung der Vól-
ker aneinander erwarten. Fúllt demnach das Hin-
dernis der Deutschfeindlichkeit fort, so lift noch
45
ein anderer Umstand Siidamerika als Auswanderungs-
ziel als besonders geeignet erscheinen. Dies ist der
Mangel, der dort an tiichtigen Arbeitskráften aller
Art herrscht. Auf riesigem Gebiete befindet sich
eine ganz geringe Bevólkerungszahl. Einen starken
Zuwachs an Bewohnern kónnen aber die siidamerikani-
schen Republiken zum Fortgang einer gesunden Ent-
wicklung nicht entbehren. Was niitzen einem Staate
alle Schátze seines Landes, wenn nicht genigend
Menschen vorhanden sind, sie zu beben? Weite
Strecken besten Bodens liegen brach, weil es an
solchen fehlt, die ¡hn bebauen, noch gróbere Flá-
chen Acker- und Weideland kónnten dem Urwald
abgerungen werden, wenn Arbeitskráfte hierfir zu
Gebote stinden. Die Reichtiimer der Berge an Eisen,
Erz und Silber werden nur in spárlichem Umfang
zu Tage gefórdert, well infolge des Arbeitermangels
noch nicht geniigend Bahnen gebaut sind. Der Er-
trag “an 'Produkten, lwie “Kaffee, Kakao, Tabak,
Gummi etc. kónnte auf ein Vielfaches gesteigert
werden, wáre die Zahl der werktátigen Hánde eine
gróbere. Man suchte dieser Not an Arbeitern frii-
her dadurch zu steuern, dalS man schwarze Sklaven
aus Afrika einfiihrte. Der Fortschritt der Kultur,
der die Sklaverei als menschenunwirdig erkennen
lie), hat dem ein Ende bereitet. Jetzt blieb nur zur
Hebung der Bevólkerungszahl die Heranziehung von
Einwanderern úbrig. Die fortgeschrittensten unter
den Staaten Siidamerikas begannen darum auch! bald,
die Einwanderung durch allerhand Erleichterung zu
fórdern. Trotzdem ist der Strom der Auswanderer
46
im wesentlichen nach Nordamerika geflossen und hat
an den Siiden der neuen Welt nur verháltnismábig
wenig Menschen abgegeben. Die Auswanderer, die
sich dorthin wandten, kamen zumeist aus den slawi-
schen Lándern oder aus Italien. Mit einem Zuzug
von dort in aller Stárke ¡ist aber in Zukunft micht zu
rechnen. Die politischen Verháltnisse in Polen und
Galizien, die. den Hauptgrund fir die Auswanderung
aus diesen Gebieten abgaben, haben sich verándert.
Italien wird in seinen neueroberten Provinzen und in
der nunmehr in seinem Besitze befestigten Kolonie
Tripolis hinreichend Arbeitsgelegenheit fir die seiner
Staatsangehórigen finden, die sonst in die Fremde
- zu zichen gezwungen gewesen wáren. Der deutsche
Auswanderer wird daher in Siidamerika als ein will-
- kommener Gast erscheinen, der auf das Entgegen-
“ Kommen und die Unterstiitzung seitens der pa
gen záhlen kann.
Wie sich die Lebensverhiltnisse und die Aus-
sichten auf ein Fortkommen im einzelnen fúr ihn
in den verschiedenen Staaten Siidamerikas gestalten,
soll nun in dem folgenden Abschnitte gezeigt werden.
dd
Allgemeines úber Súdamerika.
Die enge Landstrecke, die Nord- und Siid-
amerika mit einander verbindet und die an einer Stelle
nur eine Breite von 44 Kilometern aufweist, ist 1914
mit der Vollendung des Panamakanals durchschnitten
- worden. Mit dem áuberen Zusammenhang hat eigent-
lich auch die einzige Berechtigung, diese beiden Liin-
- derfláichen unter einem Namen als einen Erdteil zu-
sammenzufassen, aufgehórt. Beide weichen in allen
Punkten, in der Beschaffenheit ihres Bodens, ihres
Klimas, der Art ¡hrer Bevólkerung von einander ab.
| - Eine jede von ihnen ist auch grof genug, fir sich
einen Erdteil zu bilden. Hat doch' das kleinere Siid-
amerika allein mit seinen 17,7 Millionen Quadratkilo- .
metern fast die doppelte Grófe wie Europa. Auf
der Karte stellt sich Siidamerika als ein rechtwinke-
liges Dreieck dar, bei dem die breitere Seite nach
Norden gerichtet ist, wáhrend die sehr scharf aus-
gebildete Spitze nach Stiiden verláuft. Der Westen
49
o
wird vom Grofen oder Stillen Ozean, der Osten
vom 'Atlantischen Ozean bespiúlt. Die Schiffahrts-
verbindung mit Europa erfolgt auf 14 verschiedenen
Seewegen, von denen der kiirzeste von Lissabon nach
Pará in Brasilien verláuft, auf dem es móglich ist,
in 13 Tagen die Reise zurúckzulegen. Den ganzen
Erdteil durchzieht die Westkiisten entlang die ge-
waltigo Gebirgskette der Cordilleras de los Andes,
oder kurz Anden genannt, beginnend bei der Land-
enge von Panama bis hinunter nach! dem siidlichsten
Ende, dem Feuerland. Dies Gebirge hat seinen Na-
men ,Cordilleren”, das ist auf spanisch ,,Jeile”, nach
der Eigenart seiner Bildung. Es stellt sich námlich
nicht als eine gewaltige Bergmasse dar, sondern hat
die Gestalt von langen Bergreihen, die parallel zu
einander liegen und in Abstánden durch hohe, steile
Querjoche in Verbindung kommen. Infolge dessen
findet sich eine grofe Anzahl ausgedehnter Hoch-
fláchen vor, die rings von gewaltigen Gebirgsziigen
umschlossen und dadurch vom Verkehr fast vóllig
abgeschnitten sind. Um sie zu erschlieñen und gleich-.
zcitig eine Verbindung von Westen nach Osten her-
zustellen, hat man quer durch die Mitte des Erdteils
eine Bahn geschaffen, die ein NWunderwerk der Tech-
nik darstellt Sie fibhrt einen grofen Teil ihrer
Strecke auf einer Hóhe von iiber 3000 Meter, woran,
man allein ermessen kann, mit welchen Schwierigkeiten
der Bau der Bahn zu kámpfen hatte. Man hat mit ihr
erreicht, dal die Reise von Buenos-Aires bis Valpa-
raiso, den jeweils wichtigsten Kiistenplátzen, statt in
13 Tagen wie friher, heute in 2 Tagen leicht und
50
bequenr zuriickgelegt werden kann. Die Anden ge-
hóren zu den hóchsten Gebirgen des Erdballs. Sia
weisen eine ganze Reihe von Bergriesen auf, die wie
der Aconcagua und der Chimborazo eine Hóhe von
weit iiber 6000 Meter haben. Die eigenartige Glie-
derung des Gebirges 'úibt eine besondere Wirkung auf
das Fluf system Siidamerikas aus. Die grofen Stróme
entspringen zwar alle ¡in unmittelbarer Náhe der West-
kiiste. Da ihnen aber der Zugang zu ihr durch hohe
Gebirgsketten versperrt ist, suchen sie sich alle ihren
Ausweg nach dem Osten und stellen damit eing
treffliche natiirliche Verbindung der Hafenplátze am
Atlantischen Ozean mit dem Innern des Landes her.
Drei grofe Stróme sind es, denen mit dem Netz ihrer
- Nebenfliisse sowohl fiir die geographische Gliederung
wie fiir das Wirtschaftsleben Siúdamerikas ausschlag- .
- gebende ¡Bedeutung zukommt. Der kleinste und nórd-
lichste von ¡ihnen, der Orinoko, durchzieht im wesent-
lichen die Republik Venezuela, deren Bevólkerung
dem Deutschtum am unfreundlichsten gegenibbersteht,
Der zweite, der Amazonenstrom ist fast rein brasi-
lianisch. Mit seiner Gesamtlánge von 6200 Kilome-
tern ist er náchst dem Nil der grófte Strom der
Erde. Er úbertrifft diesen aber sowohl an Breite
und Wassermenge wie auch an dem Umfang seines
-— Stromgebietes, dessen Ausdehnung fast %/4 der Ge-
- samtoberfláche ¡Europas entspricht, ¡Erreicht wird dies
durch die grofe Zahl von Nebenstróme, deren mehr
als 20 zu záhlen sind und deren kleinster noch' dem
Rhein an Grófe gleichkommt, Der grófte von ihnen,
der Rio Madeiro, hat eine Lánge von 4000 Kilometern
51
qe
und záhlt damit zu den bedeutendsten Flubliufen
der Erde; der ¡an zweiter Stelle kommende Rio Negro,
der Tintenfluf — mach seiner Farbe so genannt —.
iibertrifft ebenfalls den grófiten Strom Europas, die
Wolga, an Lánge. Die Schiffbarkeit der Stróme ist
stellenweise zwar durch starkes Gefálle und Strom-
schnellen unterbrochen, man 'wird diesen Ubelstand
aber spáter durch Regulierung beheben kónnen. Heute
ist aber Dank der Tiefe dieses wasserreichsten
Stromes der Erde der Amazonas bis nach Manaob,
einer etwa in der Mitte des ¡Erdteils gelegenen
Stadt, selbst fiir gróbere Seeschiffe befahrbar. Der
Einfluf von Ebbe und Flut ist bis gegen 900 Kilo-
meter landeinwárts bemerkbar, wáhrend sich das Sib-
wasser des Stromes noch 150 Kilometer von der
_Kriiste entfernt im Ozean fihlbar macht. Einen Be-
griff von den riesenhaften Verháltnissen des AÁma-
zonenstromes gibt es wohl, wenn man, sich' vorstellt,
' dali seine Miindung eine Breite aufweist, die der
Entfernung von Hamburg mach Berlin gleichkommt..
Das dritte Flufnetz wird mit dem Namen La Plata,
d. i. der Silberstrom, bezeichnet. Man fat darunter
zwel máchtige Stróme zusammen, den Uruguay und
den Parana mit seinem nicht mindergewaltigen Neben-.
flusse, dem Paraguay, oder Papageienfluf, die sich
unabhángig von einander inmitten einer schier unend-
lichen Grasebene in ein Mindungsbecken von unge-
heuren Dimensionen ergieñen, dessen Breite in seinem
Ende 300 Kilometer betrágt.
Die klimatischen Verháltnisse Siidamerikas sind
sehr verschieden. Die lange Westkiiste ist hinreichend -
52
durch Seewinde befeuchtet. Vóllige Armut an Regen
herrscht dagegen auf den vorher erwábnten Hoch-
fláchen, da die ringsum liegenden Berge die regen-
bringenden Winde abhalten. Lima,. die Hauptstadt
von Peru, hat z. B. 'seit ihrer im 'Jahre 1535 erfolgten
Entdeckung .erst fiinf Gewitter erlebt. Der Auf-
enthalt auf den im Innern der Anden gelegenen Hoch-
fláchen wird úibrigens durch eine Veta genamnte Berg-
krankheit, die von dem Einfluf der diinnen Luft
herriihrt, sehr erschwert. Der mittlere Teil des Erd-
teils vom Gebiet des Amazonas ab gehórt dem tro-
pischen Klima an. Den stárksten Regenfall weist
dort die Zeit auf, die unserem Sommer entspricht,
wáhrend in unserem Winter iiberwiegend Trocken-
heit herrscht. In Buenos-Aires z. B. ist der Januar
der Monat der gróften Hitze, die Weinlese beginnt
im April und der Juni bringt bisweilen starken Frost
und auch Schnee. Der Siiden hat Regen zu allen
Jahreszeiten. Er ist iiberhaupt der fiir Europáer ge-
-—siindeste Teil Siidamerikas, wáhrend die heiBfeuchten
Tropenlánder fir ihn die schwersten Gefahren bergen.
In den tropischen Gegenden dehnt sich' auch das
gewaltige Urwaldgebiet aus, dessen gróbter Teil in
das Tal des Amazonenstromes. und seiner Neben-
fliisse reicht. Reichlich fiinfmal an ¡Ausdehnung iiber>
trifft der Urwald das deutsche Reich. Hier ent-
faltet die Pflanzenwelt Siidamerikas, die an Reich-
tum der Arten in keinem Erdteil ihresgleichen fin»
det, ihre vollste Uppigkeit. Hier gedeiht die reichste
Auswahl an Palmen, die eine Hóhe von 50 bis 60
Metern erreichen; hier findet sich die Klokospalme,
53.
der Gummibaum, das Vanillerohr, Pfeffer und Kax
kaobaum. Eben so reich ist die Tierwelt. Waáhrend
die Raubtiere nur in den kleineren Arten wie Puma
und Jaguar, von Dickháuter der Tapir vorkommen,
herrscht eine besondere Fiille von Insekten, Schmet-
terlingen, Reptilien und Vógeln. Von den letzten:
tragen namentlich die farbigen Papageien und Koli-
bris viel dazu bei, das bunte Bild des Urwalds zu,
beleben. Fine ganze Reihe von Tiersorten ist Sid-
amerika eigentiimlich: so der breitnasige Affe, der
Vampir, der Ameisenbár, das Giirtelschwein und die
Beutelratte. ¡Auch an Bodenschátzen aller Art ist
der Erdteil gesegnet. Gold findet sich in Brasilien,
Silber in Chile und Bolivia, Kupfer und Salpeten
ebenfalls in Chile, Eisenerze in grofer Fiille in Bras
silien vor. Die Fórderung steht zwar hinter den
Europas zuriick. Dies liegt aber nur an dem Mangel
an Unternehmungen und Eisenbahnen. Die Menga
der vorhandenen Rohmaterialien tibertrifft die euro-
páischen weit. Es steht sogar zu erwarten, dab. in
nicht allzu ferner Zukunft, sobald nun der intensivera
Bergbau in Sidamerika begonnen hat, dieses zum
Export an Mineralien nach der alten Welt iiber+
gehen wird. Das einzige Mineral, an dem Mangel
herrscht und das importiert werden mub, ist Kali.
Dieser Import lag vor dem Kriege fast ausschlieflich
in Hánden Deutschlands. '
In der Bevólkerung unterscheidet man Weife
und Farbige. Unter den Weiben herrscht die roma-
nische Rasse bei weitem vor. Die Nachkommen den
urspringlichen Eroberer des Erdteils der Spanier und,
54
Portugiesen heifen Kreolen. .Von den modernen
Einwanderern fállt das Hauptkontingent aul- Italien.
Die Zahl der ansissigen Deutschen betrágt ungefáhr
insgesamt 550,000. Die Farbigen sind entweder Ín-
dianer oder Neger. Diese sind im Laufe des neun-
zehnten Jahrhunderts als Sklaven aus Afrika heriber
gebracht worden und nach ihrer Freilassung| ansássig
geblieben. Die Zahl “der Indianer ist immer mehr
im ¡Abnehmen begriffen. Sie bilden die Urbevól-
kerung und haben ¿hren Namen dem Írrtum den
Entdecker zuzuschreiben, die nach einem unbekannten
Teile Indiens gekommen :zu sein glaubten. Mit den
Indianern geht eine besondere Menschenrasse dem
Untergange entgegen. In ihrem kórperlichen Aus-
sehen, dem langen, straffen, schwarzen Haar, dem
spárlichen oder vóllig fehlenden Bartwuchs, den
schmalgeschlitzten, háufig «schief stehenden Augen
gleichen sie am ehesten den Mongolen Hinterasiens.
Sie unterscheiden sich aber .von diesen wesentlich,
durch ihre Adlernase und durch die Gesichtsfarbe,
die bei den einzelnen Stimmen verschieden von;
leichter siideuropáisch-braunen Tónung bis zum aus-
- gesprochensten Kupferrot ist. 'Aus zahlreichen Fun-
den in Félshóhlen und Grábern hat man. schliefen
kónnen, da$ auch die Indianer nicht die erste Bevól-
kerung in Siúdamerika bildeten. Es muf' vor ihnen
eine Rasse dort gewohnt haben, die eine ganz elgen-
artige, verháltnismifig hohe Kultur besessen hat;
und die scheinbar das Opfer ider als Eroberer nahen-
den Indianer geworden ist. Náheres hat die For-
schung bis heute noch nicht zu Tage fórdern kónnen.
55
Man findet die Indianer gegenwártig entweder als
Einzelne in den Stádten und zwar meist in niedrig?
ster Stellung als Arbeiter auf den Plantagen oder in
Stámmen und Gruppen im Ínneren des Landes. Man,
unterscheidet in letzterem Falle die kultivierten
_ Stámme und die Jugendstámme, die Bakairi und Ka-
raiben, in denen die Spanier ohne ¡allen Grund den,
Inbegriff alles Verabscheuungswerten sahen. Sie
hausen meist im Innern Brasiliens und náhren sich
von den Ertrágnissen der Jagd, der sie mit den pri-
mitivsten Werkzeugen nachgehen. Von der Kultun
der Weifen haben sie wenig angenommen. Einiga
ihrer Stámme haben sich im oberen Amazonas-Gebiete;
sefhaft gemacht und eine eigene Kultur entwickelt,
Sie leben in Gruppen von je fiinfzig Familien zu-
sammen. ¡Als Wobnung dienen ihnen ,Sippenháuser”,
die ohne alle Nágel nur durch Schlingpflanzenstoff
zusammengehalten werden. Als Waffe beniitzen sie,
Pfeile, die mit einem tódlichen Gifte getránkt sind.
Sie sind aber friedfertig und nehmen den Weiben,
der sich zu ihnen verirrt, gastfreundlich auf. Die
kultivierten Indianer-Stámme sind entweder am Ge
stade des Stillen Ozeans oder auf den Hochebenen
der Kordilleren zu treffen. Sie sind sefhaft und
betreiben Weide- und Viehwirtschaft. Aus der Vers
bindung von Farbigen und Weifen sind die Misch-
linge hervorgegangen. Ihre Namen sind verschieden.
Die Nachkommen von Weifen und Indianern heifen
Mestizen, die von Weifen und Negern Mulatten und
die von Negern und Indianerfrauen Kambos. Me-
stizen finden sich vor allem in Mittel- und Sid-
56
amerika, Mulatten in Brasilien, wáhrend die Klambos
ber den ganzen Erdteil verstreut vorkommen. Die
Zahl dieser Mischlinge ist in stetem starken Wach-
sen begriffen, so dafí sie bereits anfangen, eine Ge-
Lahr fir das rein weife Element zu bilden. Das ist
auch einer der Griinde, weshalb die Regierungen die
Einwanderung aus Europa wiinschen und begiinstigen.
Sidamerika ist der zukunftsreichste aller Erd-
teile, dem sich eine Fille von Entwicklungsmóglich-
keiten bietet. Die Fruchtbarkeit seines Biodens 1st,
unúbertroffen. NWeite Gebiete anbauunfáhigen Lan-
des, wie sie Afrika, Asien und Australien in ihren
Wiisten aufweisen, fehlen. Nur in den nórdlichen
Anden und in der Republik Bolivia finden sich breite,
diirre Fláchen, die aber dafiir eine reiche Ausbeute
an Mineralien versprechen. Die weiten Ebenen des
Orinoco und des La Plata bieten fiir Ackerbau und
Viehzucht die glánzendsten Aussichten. Die Urwald-
gebiete des oberen Amazonaslaufes úbertreffen weit
den Kongowald in Afrika. In ihnen gedeiht den
Gummibaum und das Vanillerohr in Mengen. Kaffee,
Kakao, Tiabak und Baumwolle ergeben schon jetzt
die reichste Ausbeute. Die Schátze an Mineralien,
Eisen, Erzen, Salpeter, Silber etc. beginnt man erst
seit wenigen Jahren intensiver zu suchen. Einen be-
sonderen Vorteil genieit Siidamerika in den natiir-
lichen Verkehrsstrafen, den grofen Fliissen, die eine
billige und bequeme Verbindung des Innern mit dem:
Atlantischen Ozean schaffen. Ein gesegnetes, weites
Arbeitsfeld liegt hier. Es fehlt nur an der nótigen,
Zahl der Arbeitskráfte, um Sidamerika zur Stellung
57
des wirtschaftlich wichtigsten Erdteils zu heben. Die
vorhandene Bewohnerzahl reicht zu diesem Werke
bei weitem nicht aus. Auf dem ganzen Erdteil, den
17 Millionen Quadratkilometer Flácheninhalt besitzt,
leben zur Zeit mur ungefáhr 52 Millionen Menschen.
Das bedeutet eine Besiedelungsdichte von 2,9 Men-
schen auf einen Quadratkilometer. Man vergleiche
damit die Einwohnerzahl des von der Natur weit
ungúnstiger bedachten Europas. Hier finden sich,
auf eine Fláche von 9,7 Millionen Quadratkilometern,
also ungefáhr der Hálfte Sidamerikas, 447 Mil-
lionen, d. h. 45,2 Menschen auf einen Quadratkilo-
meter. Der Mangel an Bewohnern allein trágt die
Schuld, dal? die Weltstellung Siidamerikas noch nicht
die gebúhrende Hóhe einnimmt. Seine Ausfuhr an
Erzeugnissen der Viehzucht und an Rohstoffen aus
dem Mineralien- und Pflanzenreich ist zwar schon,
sehr bedeutend, sie bleibt aber weiter hinter dem zu-
riick, was bei einer Bewirtschaftung durch eine gróbere
Zahl von Menschen exportiert werden kónnte. Auber=
dem flieñen gewaltige Summen nach der Union und:
nach Europa, weil von dort ¡alle Fertigfabrikate be-
zogen werden. Als Lieferant kam hierbei vor dem
Kriege Deutschland an zweiter Stelle in Betracht.
Besonders bedeutend war sein Export an landwirt-
schaftlichen Maschinen. Vom kStandpunkt unserer
Volkswirtschaft aus war dies natiirlich auf das leb-
hafteste zu begrifen. Siidamerika aber machte Aus-
gaben, die es mit Leichtigkeit sparen kónnte. Da es
alle die Rohstoffe, aus denen diese Fertigfabrikate
hergestellt werden, in Fille selbst besitzt, ist es nur
58
der Mangel an Unternehmungen auf eigenem Boden,
die es veranlassen, aus der Fremde zu beziehen und:
dabei die grofe Mehrbelastung, die sich aus den
Transportkosten ergibt, zu tragen. Gerade auf dem
Gebiete der Industrie und Fabrikation liegen deshalb,
die Aussichten besonders giinstig. Neue Griindungen
werden in Siidamerika ein reiches Absatzgebiet fin-
den, von dem sie, da ihnen allein der Wegfall den
Transportkosten ein weit billigeres Arbeiten ermóg-
licht, bald die europáische und nordamerikanische
Konkurrenz verdrángen kónnte.. Der grofe Vorrat,
an Rohstoffen wird es auch mit sich bringen, dabi
selbst die Artikel, die gegenwártig noch das Ausland
liefert, ausgefiihrt werden kónnen. Es bietet sich
demnach auch hier ein weites Titigkeitsfeld, da kauf-
mánnische und technische Angestellte in Menge nótig
sind, die im Entstehen begriffene Grobindustrie zu
fórdern.
Das Fehlen von Arbeitskriften ist vornehmlich
auf den Grund . zuriickzufihren, der die vorwárts-
drángende wirtschaftliche Entwickelung aufgehalten
hat, námlich der Mangel an Verkehrsstrafen. — 1st
Sidamerika auch an natirlichen Wasserwegen in einem
Mabe wie kein zweiter Erdteil gesegnet, so reichen
diese doch selbstverstándlich bei weitem nicht aus,
alle die Verbindungen herzustellen, die der moderne
Verkehr benótigt, ganz abgesehen von der Langsam-
keit, mit denen die Reise auf ihnen vorgeht. Was
Siidamerika besonders fehlt, ist daher ein ausgedehn,
tes Eisenbahnnetz und ein planvoll angelegtes System
an Kunststrafen. In vielen Gegenden lohnt sich zur
59
Zeit weder die Bebauung des Bodens nach dem Be-
trieb von Bergwerken, da die Unkosten des Trans-
portes derart hohe sind, daf: sie alle Verdienstmóg-
lichkeit verschlingen. Weite Flichen ertragfáhigsten
Landes liegen ideshalb heute als nutzlos brach, die
im selben Augenblicke einen hohen Wert darstellen,
in dem eine bessere Verbindung zwischen ihnen und
der Umwelt geschaffen ist. Zu beriicksichtigen ist
noch, dali bei dem Bau von Eisenbahnen und Kunst-
strafen ganz besondere «Schwierigkeiten zu “i¡berwin-
den sind. Gewaltige Hindernisse bieten der Urwald
und die Cordilleren. In ersterem ist die Fortbewe-
gung und damit die Anlage von Strafen dadurch so,
erschwert, dal aufer dem fast undurchdringlichen
Dickicht an Báumen und Gewáchsen sich die ,,Li-
anen” genannten Schlingpflanzen von Baum zu Baum,
ziehen und damit den Weg versperren. Sie sind,
teilweise von solcher Dicke, daf; sie mit der Axt
durchhauen werden miissen, und diese Arbeit dem
Fállen von Báumen gleichkommt. Einige Arten dieser
Schlingpflanzen enthalten dazu noch gefáhrliche gif-
¿ tige Sáfte. Die Cordilleren stellen den Ingenieun
dadurch vor schwierig zu lósende Aufgaben, daf: sie;
infolge der Eigenart ihrer Formation besonders zer-
kliiftet sind, und riesige Hóhen, mit gáhnenden Schluch=
ten in steter Folge abwechseln. Seit einem Jahrzehint;
hat man in der Erkenntnis, dali von der Schaffung
eines Bahnnetzes der Fortgang der wirtschaftlichen
Entwickelung in erster Linie abhángt, damit begon-
nen, allen Schwierigkeiten zu trotz, Schienenwege
in gróberer Zahl anzulegen. Ein Beispiel hierfiin
60
bietet das technische Meisterwerk der Bahn von
Buenos-Aires nach Valparaiso, das bereits oben er-
wáhint wurde.
Ein zweiter Grund, der den wirtschaftlichen
Fortschritt Siidamerikas hemmte, war die politische
Unsicherheit. Es gab kaum eine Zeit, in der auf
dem ganzen Kontinent úiberall Ruhe und Friede ge-
herrscht hátte. Entweder waren die einzelnen Staaten
in gegenseitige Kriege verwickelt, die ¡hre Ursachen
fast ausschlieflich in Grenzstreitigkeiten hatten, loder
Revolutionen zerrissen die innere Ordnung der ein-
zelnen Láinder. Die Verháltnisse scheinen sich aber
in diesen Bezichungen jetzt geklárt und einem fried-
lichen, ruhigen Zustand Platz gemacht zu haben.
Man záhlt gegenwártig in Siúdamerika 9 Republiken
und das Kolonialland Guajana, in dessen Besitz sich
Frankreich, England und die Niederlande teilen. Von
den Republiken sind spanischer Zunge: Argentinien,
Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbia, Paraguay, Peru,
Uruguay und Venezuela. Portugiesisches Sprachge-
biet sind die Vereinigten Staaten von Brasilien. Ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung nach' kommen fiir den Aus-
wanderer Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und
Uruguay besonders in Frage. Die Verháltnisse in
diesen Staaten sollen daher etwas náher dargelegt
werden.
Brasilien.
1) Land und Leute.
Die Vereinigten Staaten von Brasilien (Estados
Unidos do Brazil) bilden die grófte und bedeutend-
ste der siidamerikanischen Republiken. In ihrem Um-
fange von 8550000 Quadratkilometern (fast soviel
wie ganz Europa) mehmen sie beinahe die Hálfte
des ganzen Erdteils ein. Die Grenze wird im Osten,
vom Atlantischen Ozean, im Norden, Westen und
Siiden der Reihe nach von allen siidamerikanischen
Staaten auber Chile und Ecuador gebildet. Von den,
riesenhaften GróBenverháltnissen des Landes gibt es
einen Begriff, daf es die l6fache Ausdehnung
Deutschlands von 1914 hat, dal die gróbte Entfer-
nung von Norden nach Siden 5315 Kilometer, also
gleich der von Gibraltar bis Kristiania, die gróbte
Breite 5450 Kilometer betrágt. Es zerfállt in das
siidóstliche Gebirgs- und Kiistenland, bei dem die
Berge dicht an das Meer herantreten und in “dem;
sich die wichtigsten Háfen sowie die dichtese Be-
siedelung findet, und in das nordwestliche Amazonen-
63
stromgebiet, das auch den Namen Hochland von
Brasilien fihrt. In «diesem, das etwa ein Sechstel
der Oberfláche Siidamerikas ausfiillt, liegt der Ita-
tiaga, der mit 2990 Meter der hóchste Gipfel Brasi-
liens ist. Von iden Anden ist es durch' die ,,grofe
Grasebene* das Hochland von Matto Grosso getrennt.
Einen besonderen Vorteil fiiwr das Land bietet die
langgestreckte Kiiste, die eine Ausdehnung von 7920
Kilometern hat. Sie ist wenig gegliedert und weist
eine Fille trefflicher Háfen auf. Die zu Brasilien
gehórenden Inseln liegen bis auf die ehemalige Ver-
brecherkolonie Fernando do Noronda meist ganz nahe
am Ufer. Háufig sind sie nur durch ganz schmale
Kanále vom Festland getrennt. Das ist vor allem
der Fall bei der gróf ten brasilianischen Insel Marajo,
die im Mindungsgebiet des Amazonas liegt, und
die mit einer Oberfláche von 5328 Quadratkilometern
grófer als die Schweiz ist. Von den zahlreichen
Fliissen des Landes «sind die wichtigsten der Ama-
zonenstrom, der San Francisko und der Parana. Ihre
Bedeutung ist bereits bei der Besprechung Súdamerikas
hervorgehoben worden. HAmazonas und Parana sind,
Fliisse der Niederung. Sie stiirzen sich námlich ziem-
lick nahe bei ihren Quellen steil -von den Bergen;
nieder und erreichen eine Hóhe von wenig mehr als
100 Meter úiber dem Meeresspiegel. Bei ihrer ge-
waltigen Ausdehnung bedeutet dies ein sehr geringes
Gefálle, ein fiir die Schiffahrt besonders giinstigen
Umstand. Die zahlreichen Stromschnellen, die na-
mentlich im Oberlauf auftreten, werden mit der Zeit
durch Regulierung beseitigt werden. Der San-Fran-
64
cisko weist einen hóheren Niveauunterschied zwischen
Quellgebiet und Miindung auf. An der Stelle, an
der er das Kiistengebirge durchbricht, bildet er den
riesigen Wasserfall von Paulo Affonso, der den,
Niagarafall um 30 Meter Hóhe úbertrifft. Er wird
als eine der grofartigsten Naturschónheiten Brasiliens
bezeichnet. Es bietet ein iiberwáltigendes Schauspiel;
wie der Strom zwischen einer Anzahl kleinen Inseln
in breitem Bette fuhñig dahingleitet, um plótzlich
zwischen engen Felswánden dem Abgrunde zuzurasen
und sich 80 Meter in die Tiefe zu stiirzen.
Seen finden sich in Brasilien wenig. Der be-
deutendste, im Siiden gelegene Lagoa dos Patos mit
einem Umfang von 9000 Quadratkilometern ist nur
durch einen schmalen Landstreifen vom Meere ge-
trennt und kann als Binnensee nicht mehr bezeichnet
werden.
Bei der riesigen Ausdehnung des Landes ist es
selbstverstándlich, dafi, die klimatischen Verháltnisse
in den einzelnen Gegenden ganz verschiederarlige
sind. Man kann beziglich der Temperaturen und der
Perioden der Niederschláge Brasilien in drei Re-
gionen teilen, Die erste umfaft das Stromgebiet
des Amazonas bis zu den Anden. Hier herrscht
Tropenklima. Die Durchschnittsjahrestemperatur be-
trágt ungefáhr 300 Celsius. Selten sinkt das Ther-
mometer unter 20% Man unterscheidet daher dort
die Jahreszeiten auch nicht nach ibrem Wárme- und
Kiltegrad, sondern nach der Verteilung des Regens.
Die Monate August bis Dezember sind die regen-
65.
reichsten. Die Hitze im Zusammenhang mit dem
erheblichen Feuchtigkeitsgehalt der Luft sind zwar
die Ursachen fiir das iippige Wachstum, machen aber
diesen Teil des Landes ungesund und fir Europáer
kaum ertráglich. Dazu zeigen sich namentlich im
oberen und mittleren Stromgebiet des Amazonas sehr
starke Temperatur-Schwankungen, die auf den raschen
Wechsel zwischen dem warmen Nord- und dem
kalten Súdwind zuriickzufihren sind. Die Unter-
schiede bewegen sich oft innerhalb eines Tages zwi-
schen 250, Die zweite, subtropische Zone reicht un-
gefáhr bis zu einer Linie, die von Rio de Janeiro
quer durchs Land zu ziehen ist. Hier sind die kli-
matischen Bedingungen fiir den Europier ginstiger.
Die mittlere Jahrestemperatur betrágt 220. Die Re-
genperiode fállt in die Monate Dezember bis April.
Freilich herrscht hier abgesehen von der Kiistenzone,
in der sich der Einfluf, des Meeres bemerkbar macht,
oft grofe Trockenheit. Sie ist darauf zuriickzufiihren,
daf die ungliickliche Lage der Gebirge dort die
-regenbringenden Ost- und Siidostwinde auffángt. Der
siidliche Teil des Landes gehórt der gemábigtem
Zone an. Die klimatischen Verháltnisse sind dort
fiir den Europáer die denkbar giinstigsten. Deshalb
haben sich die Einwanderer auch mit Vorliebe hier-
hin gewandt, Regen fállt in genigender Ménge, vor-
zugswelse in den Sommermonaten, so dab. sich gerade
die Zeit, die nach dem Kalender Winter heift, durch
klares Wetter auszeichnet. Die mittlere Jahrestem-
peratur steigt nicht iúber 20% Celsius. Im Winter
sinkt das Thermometer bisweilen auf den Gefrier-
66
punkt, es tritt leichter Schneefall ein, und auf den
Gewássern bilden sich diinne Eiskrusten,
Die Epidemieen von gelbem Fieber und Malaria, *
die friher Tausende von Opfer forderten, sind sel.
tener geworden. Sie hatten ihre Ursache weniger
in den klimatischen Verháltnissen als in der voll-
kommenen Vernachlássigung aller Vorschriften der
Hygiene seitens der Regierung und Bevólkerung.
Neuerdings hat man nun durch eine geordnete Ge-
sundheitspolizei vor allem in den einst am meisten
- heimgesuchten Kiistenstádten den Kampf gegen die
Seuchen erfolgreich aufgenommen. Ausgesprochene
Fieberherde, sind aber die sumpfigen Mindungsge-
biete des Amazonas und des Parana, sowie die Uferl
der Schwarzwasserfliisse, Nebenfliisse des Amazonen-
- stromes, die diesen Namen nach' ihrer tiefschwarzen
Farbe fihren, die ihnen die viele, von fortgeschwemm-
ten und dann verwesenden Pflanzen gebildeten Humus-
sáure verleiht. Hier ist der Aufenthalt fiir Europáer
schlechterdings unmóglich.
Die Geschichte des Landes zerfállt in drei Pe-
rioden. Acht Jahre nachdem der Genuese Kristoph
Kolumbus Amerika entdeckt hatte, landete am 3. V.
1500 der Portugiese Cabrál mit einer kleinen Flotte.
nach sechswóchentlicher Fahrt an der brasilianischen
- Kiiste unweit der heutigen Hafenstadt Bahia. Das
- neuentdeckte Gebiet, das man bald nach' der Menge
- des vorgefundenen Brasilholzes, aus dem rote Farbe
gewonnen wird, Brasilien nannte, wurde als Besitz
der portugiesischen Krone, welche die Expedition
ausgesandt hatte, erklárt. Portugal tat jedoch fiir
die Kiolonie wenig. Seine Verwaltung, an deren
Spitze ein in Bahia residierender Gouverneur stand,
sah ihre Aufgabe darin, ohne Riicksicht auf das
Gedeihen des Landes eine móglichst grofe Menge
der kostbaren Produkte, wie Gold, Edelstein, Bra-
silholz etc. nach der europáischen Heimat zu schaf-
fen. Gegen die eingesessenen Bewohner, die In-
dianer, ging man dabei aufs riicksichtsloseste vor,
und rottete bei idem geringsten Widerstande ganze
Stámme aus. Was fiir sie und fir die Kultur des
Landes geschah, ist das Verdienst der Jesuiten, die
schon bald nach der Eroberung mit der Christianisie-
rung der Urbevólkerung begannen, und sich ihrer
Schiitzlinge gegen Ubergriffe und Grausamkeiten der
Verwaltung annahmien. Am Ausgang des achtzehnten
Jahrhunderts war Brasilien bis zu seinen heutigen >
Grenzen erschlossen worden. Seine kaukasische, also
ursprinmglich europáische Bevólkerung, war um diese
Zeit auf etwa drei Millionen gestiegen. Die Lage
des Landes war die denkbar unginstigste geblicben.
Die Einrichtung industrieller Unternehmungen war
verboten, die Ausfubr nur nach Portugal selbst ge-
stattet, dem aubferdem gewaltige Abgaben gezahlt
werden multen. Ein Umschwung trat ein, als im
Jahre 1808 die Eroberung Portugals durch die Fran-
zosen unter Napoleon die portugiesische Regierung
veranlafte, ihren Sitz nach Brasilien zu verlegen.
Zur Residenz des Kónigs wurde Rio de Janeiro, das;
an Stelle von Bahia zur Hauptstadt des Landes er-
hoben worden war, ausersehen. Kurze Zeit spáter
erklárte man Brasilien zum selbstándigen Kónigreich,
68
das mit Portugal nur noch die Person des Herr-
schers gemeinsam haben sollte. Ein rascher Auf-
schwung war die Folge der: neuen Selbststándigkeit. -
Im Jahre 1821 kehrte der Kónig nach Portugal zu-
rúck. ¡Als gleichzeitig die Versuche einsetzten, Bra-
- silien wieder in seine alte Stellung «als abhángige
Kolonie herabzudriicken, kam es zur Revolution. Am
8. September 1822 wurde Brasilien zum Kaiserreich
erklárt, das mit Portugal in keiner Verbindung mehr
stand. Der von den Portugiesen als Prinzregent zu-
riickgelassene Dom Pedro bestieg auf Wunsch des
Volkes den Thron. Die Regierungszeit seiner Fa-
milie, die bis 1889 dauerte, war zwar eine Periode
wirtschaftlichen ¡Aufschwungs, jedoch von dauernden
Kriegen mit den Nachbarstaaten und inneren Strei-
tigkciten erfúllt. Das Gesetz, das die Sklaverei ab-
schaffte, bildete den Grund zum Sturze des Kaiser-
hauses. Die Grofgrundbesitzer, die sich der billigsten
Arbeitskraft beraubt sahen, schlossen sich der repu-
- blikanischen Partei an, und diese gewann die Ober-
hand. Die ncue Verfassung, die heute noch gilt,
stammt aus dem Jahre 1891. Danach ist Brasilien
ein Bundesstaat wie Deutschland, in der Form: einer
konstitutionell-reprásentativen Republik. Das Bundes-
gebiet umfafit 20 Bundesstaaten, die aus den fribheren
portugiesischen Verwaltungsbezirken gebildet sind, ein
gemeinschaftliches Bundesgebiet, das das Weichbild
der Hauptstadt umfaft, und ein Bundesterritorium.
Ein jeder der 20 Staaten, die matiirlich auch repu-
blikanisch organisiert sind, erledigt seine Angelegen-
heiten vóllig selbstándig und hat seine eigene Gesetz-
69
gebung und Verwaltung. Die Bundesregierung be-
fabt sich nur mit den alle Bundesglieder in gleichem
Mafe berihrenden Interessen. Wie iberall gliedert
sich die Staatsgewalt in Verwaltung, Gesetzgebung
und Rechtsprechung. An der Spitze der Verwaltung
steht ein Prásident und ein Vizeprásident. Unter
ihnen fungieren sieben Minister námlich fir Aus-
wártiges, Finanzen, Krieg, óffentliche Arbeiten, In-
neres und Justiz, Marine, Ackerbau, Handel und In-
dustrie. Die Gesetzgebung erfolgt nach dem Zwei-
kammersystem. Die erste Kammer wird von dem
Senat, dessen 63 Mitglieder von den einzelnen Biun-
desrepubliken ernannt werden, die zweite Kammer von
dem aus gleichen, direkten, geheimen Wahlen her-
vorgehenden Abgeordnetenhaus mit einer Zahl von 212
Mitgliedern gebildet. Die Abgeordneten werden auf
_drei Jahre, Prásident und Vizeprásident auf 4 Jahre
gewáhlt. Gegen die Beschliisse der Klammern steht
dem Prásidenten ein Vetorecht zu. Der Prásident
und sein Stellvertreter, sowie die Mitglieder beider
Kammern diirfen nicht unter 35 Jahre alt seim. Das
aktive Wahlrecht steht jedem 21 jáhrigen Brasilianer
zu, der des Lesens und Schreibens kundig ist. Als
Brasilianer gelten alle im Lande Geborenen, mit Aus-
nahme der Kinder derjenigen Fremden, die im Dienste
ihrer Heimat stehen. Fiir die Kinder deutscher Ein-
wanderer, die ihre deutsche Staatsangehórigkeit be-
halten haben, tritt also der Fall der doppelten Staats-
angehórigkeit ein. Ubrigens werden auch alle Aus
lánder, die seit dem: 15. November 1889 in Brasilien
leben, als Brasilianer 'behandelt, sofern sie nicht
70
gegen die allgemeine Naturalisation vom Jahre 1891
Verwahrung eingelegt haben.
Auslánder stehen den Brasilianern bis auf die
óffentlichen Biirgerrechte vor dem Gesetze gleich.
Das Gerichtswesen ist in guter Ordnung. Das neue
Zivilgesetzbuch hat der friheren Unsicherheit auf dem
Gebiete des Privatrechts ein Ende bereitet. Es steht
wie das Strafgesetz unter franzósischem Einflub. Die
Todesstrafe ist unbekannt. Seit 1908 besteht die allge-
meine Wehrpflicht. Jeder Brasilianer muf mit 21 Jah
ren dienen. Das stehende Heer umfaft 18 600 Mam,
2160 Offiziere und 20000 Gendarmen. Die Kriegs-
flotte besteht aus 23 Fahrzeugen und 186 Geschiitzen.
Die Zahl der Marinetruppen betrágt 8600 Mann. Die
Landesflagge ist griingelb mit einer blauen Kugel
und 22 Sternen.
Das Miimzwesen fuft auf der Goldwáhrung.
Die Einheit ist der Milreis, der in 1000 Reis zerfállt.
Der Wert des Milreis betrug nach dem Stande unserer
Valuta von 1914 gerechnet 1,29 Mark, nach unserer
heutigen Valuta ungefáhr 2 Mark. ¡Als Scheidemiin-
zen dienen Nickelstiicke zu 200 und 100 Reis, sowie
Kupfergeld zu 20 und 10 Reis. Das Mab- und
Gewichtssystem ist das sogenannte metrische, wie es
auch bei uns in Deutschland besteht.
Das Eisenbahnnetz ist fiir die Grófe des Lan-
des klein. Es umfabt einen Schienenweg von 26000
Kilometer, die Hálfte etwa der preubischen Eisen-
bahnen. Die Bahnen sind teils staatlich, teils Privat-
unternehmen. Ihre Einrichtung ist durchweg gut. Die
71
Postverháltnisse sind in ordentlichem Zustand. Der
Dienst wird durch 3500 úber das Land verteilte
Amter versehen.
Der Dampferverkehr ist noch wenig entwickelt,
Regelmábfige Linien bestehen nur auf dem Amazonas,
dem S. Franzisko und dem Parana. Die Kiisten-
schiffahrt liegt in den Hánden einheimischer Gesell-
schaften. Den Verkehr mit Nordamerika und Europa
versehen ausschlieflich auslándische Linien.
In den dichter bevólkerten Gegenden ist fiir einen
geordneten Schulunterricht Sorge getragen. Es be-
finden sich dort Volksschulen und hóhere Schulen,
Gymnasien fiir die Knaben und diesen gleichgestellte
Pensionate fiir die Mádchen in geniigender Zahl vor.
Universitáten in unserem Sinne bestehen nicht. Wohl
ist eine ganze Reihe von Hochschulen vorhanden.
Es wird aber an ihnen jeweils nur eine Wissen-
schaft getrieben.
Die Kirche ist vom Staate getrennt. Es herrscht
vóllige Religionsfreiheit. Der weitaus iiberwiegende
Teil der Bevólkerung bekennt sich aber zum rómisch-
katholischen Glauben. Heiden záhlt man ungefáhr
600000. Es sind dies die im Innern des. Landes
lebenden Indianerstimme. Von diesen Ureinwohnern
leben ungefáhr noch zwei Millionen im Lande. Neger
záhlt man etwa vier Millionen. Der iibrige Teil der
auf 24300000 berechneten Gesamtbevólkerung ent-
fállt auf die Weifen und die Mischlinge. Von dem .
urspringlich portugiesischen Element ist nicht viel
mehr zu spiúren, aufer dal das Portugiesische die
72
Landessprache bildet. Unter dem Einfluf der Bluts-
vermischung und den andersartigen klimatischen Ver-
háltnissen ist ein besonderer brasilianischer Menschen-
typus entstanden, der eine Rasse fiir sich zu bilden
beginnt. Es ist eine wie úiberall auch' hier festge-
stellte Tatsache, daf die europáischen Einwanderer
“nach wenigen Generationen die charakteristischen kór-
perlichen Merkmale ihres Stammes verlieren und in
der Bevólkerung der neuen Heimat aufgehen.
2) Lebens- und Erwerbsverháltnisse.
| Bei der gewaltigen Ausdehnung des Landes ist
es selbstverstándlich, dal die wirtschaftlichen Situatio-.
nen in den einzelnen Gliedstaaten sehr verschieden-
artigo sind. Ganz allgemein kann man aber sagen,
dal$ der Schwerpunkt der brasilianischen Volkswirt-
schaft auf Landwirtschaft und Viehzucht liegt. Die
Stádte kommen in erster Linie als Handelsplátze
in Frage. Die Rolle von Industriezentren wie in
Europa oder in der Union spielen sie vorderhand
noch nicht. Sie liegen fast sámtliche lángs der Kiiste
und gewinnen ihre Bedeutung durch die Stellung als
Ausfuhrháfen fiir die Erzeugnisse des Hinterlandes
und als Ausgangspunkte der grofen Schiffahrtslinien.
Die Zahl der Grobstádte ist iiberhaupt in Siúidamerika
gering. Den ersten Platz nimmt unter ihnen die
Landeshauptstadt Rio de Janeiro ein, die mit ihrer
Einwohnerzahl von 1,3 Millionen zu den Weltstád-
ten gehórt. Sie rechnet auch zu den schónsten Stádten
74
der Erde. Selbst Neapel und Konstantinopel kónnen
sich nicht mit der zauberhaften Pracht des Golfes
von Rio messen, Zudem haben hier Menschenhánde
ihr Móglichstes getan, ¡um dem wundervollen Rabh-
men, den die Natur geschaffen hat, eine wiirdige
Fiillung zu verleihen. 'Die Stadt ist reich an herr-
lichen Palásten, práchtigen Strafenzigen mit ele-
ganten Láden und Anlagen, in denen die Flora der
Tropen ihre Schátze ausbreitet. Die Hóhenzige und
die Stadt schmiicken anmutige Villenviertel. Die
Hafenanlagen sind von modernster Ausfihrung. Man
hat ganze Stadtteile, die eng und dumpf gebaut waren,
niedergelegt und dann nach einem einheitlichen Plane
wieder ¡aufgebaut, um die friheren schlechten sani-
táren Verháltnisse zu bessern. Durch diese und
andere hygienische Mafinahmen ist es auch gelungen,
Rio, das einst als gefáhrlich verschrieen war, zu
einem durchaus gesunden Platze zu machen. Die
Hauptstadt ist nicht nur das politische Zentrum, son-
dern auch der erste Handelsplatz und der Mittelpunkt
der Kultur des Landes. Diese ist durchweg roma-
nisch orientiert und steht unter dem iiberwiegenden
Einfluf von Frankreich, bezw. von Paris. Frankreich
hat es ausgezeichnet verstanden, sich in Amerika die
geistige Vorherrschaft zu sichern durch eine trefflich
- organisierte Propaganda in Form von Griindung ge-
selliger und wissenschaftlicher Vereimigungen und von
Vortragsreisen seiner ersten .Gelehrten und Schrift-
steller. Paris ist das Ziel aller europareisenden rei-
chen Siidamerikaner, und von dorther werden alle Lu-
xusartikel bezogen. 'An Schónheit und ¡Neuheit der An-
75
lage und der Einrichtungen steht die zweitgróbte Stadt:
des Landes Saó Paulo (450000 Einwohner), die
Hauptstadt des gleichnamigen Staates, hinter Rio
nicht zuriick. Sie ist reich an Industrieunternehmungen
und bildet den Eisenbahnknotenpunkt fir den ge-
samten Westen und Siden. Besonders gerihmt sind
die wissenschaftlichen Institute und Unterrichtsan-
stalten. Das Klima list infolge der Hóhenlage von
760 Metern sehr gesund. Die Verbindung mit der
Hafenstadt Santos wird durch eine ausgezeichnete
Eisenbahnlinie in drei Stunden hergestellt. Die úb-
rigen drei Grofstádte Bahia, Pernambuco und Pará
tragen den Charakter ausgesprochener Hafenstádte.
- Pernambuco war in erster Linie der Anlegeplata
der deutschen Schiffe. Das Leben in diesen Stádten
spielt sich im wesentlichen in denselben Formen wie
bei uns in dan Grofistádten ab. Diese zeigen eben
in allen Erdteilen dieselben Wesenszige: Anháufung
grofer Menschenmassen auf einem verháltnismábig
kleinen Raume, stark ausgeprágte Gegensátze zwl-
schen einer wenig ¿zahlreichen, begiiterten Klasse,
die in eleganten Vierteln wohnt und einem vielkópfi-
gen Proletariat, das in grofen Mietskasernen zusam-
mengepfercht ist, und lebhafter Verkehr und vor allem
eine Fúlle von Vergnigungsmóglichkeiten aller Art.
Letztere bildet auch den Hauptgrund dafiir, weshalb
die Stádte solche “Anziehungskraft ausiiben, die zu |
der fiir so viele Familien verderblichen Landflucht
gefihrt hat. Viele Auswanderer bleiben deshalb auch
in Sidamerikaj in den Grofistádten, weil sie selbst
in der neuen Heimat sich nicht zu dem Entschlusse
76
durchringen kónnen, aufs Land zu gehen. In den
meisten Fállen haben sie dies schwer bien mússen.
Auber fir Kaufleute sind die Fortkommensaussich-
ten dort nur sehr gering, sodaf der “Auswanderer,
der in der Stadt seinen Wohnsitz nimmt, leicht in
Gefahr gerát, nur zur Vermehrung des Proletariats-
beizutragen. Die Lúhne, die in den brasilianischen
Stádten fiir Handwerker und Industricarbeiter ge-
zahlt werden, weichen bei den einzelnen Berufszwei-
gen mehr untereinander ab als bei uns. Zur Orien-
tierung mag eine kurze Ubersicht iiber die Lohnver-
háltnisse in der Landeshauptstadt dienen: Es ver-
dienen dort, auf iden Monat gerechnet, ungefáhr:.
Bácker 130 Mark (bei freier Station), Bierbrauer
200—220 Mark, Buchdrucker 350—370 Mark, Fri-
seure 150 Mark (bei freier Station), Glaser 280 bis
300 Mark, Kellner 100—150 Mark (bei freier Sta-
tion), Konditoren 300—350 Mark, (bei freier Sta-
tion), Maurer 300 Mark, Mechaniker 600 Mark,
Monteure 700—800 Mark, Schlosser 400 Mark,
Schmiede 400 Mark, Schneider 350—400 Mark, Ta-
pezierer 350 Mark, Uhrmacher 550 Mark, ungelernte
Arbeiter erhalten einen Tagelohn bis zu etwa 5,50
Mark. Die Preise der Lebensfihrung in der Haupt-
stadt kónnen wie úiberhaupt fiir das ganze Land nur
annáhernd angegeben werden. Sie unterliegen groben
Schwankungen, die von dem jeweiligen Ausfall der
Ernte abhángen. Bei mittleren Ansprichen mul man
fir volle Pension in einer Familie 250 Mark, in
einem ¡Gasthof etwa 300 Mark anlegen. Die Kosten
des Mittags- und ¡Abendessens belaufen sich auf
del
etwa drei bis fiinf Mark. Die monatliche Miete
fir eíne kleine Familienwohnung beláuft sich auf
ungefáhr 180, fiir eim móbliertes Zimmer auf 100
Mark. Die Kosten der Lebensmittel betragen durch-
schnittlich auf das Pfund berechnet: fiir Hammel-
und Kalbfleisch 1,20 Mark, fiir Rindfleisch 60 Pfen-
nig, fiir Brot 50 Pfennig, Butter 2,25 Mark, Mehl
30 Pfennig, Salz 50 Pfennig, Reis 30 Pfennig, Zucker
50 Pfennig, Eier das Stick 12—25 Pfennig, Milch
der Liter 40 Pfennig, Bier und Landwein ungefáhr
1,25 Mark. Die Steuerverháltnisse sind á¿hnlich, wie
sie bei uns vor dem Kriege waren. Im siidlichsten
Bundesstaat, Rio Grande do Sul, liegen die Lebens-
mittelverháltnisse ginstiger. Die Lóhne sind durch-
schnittlich um 20 Prozent hóher, wáhrend die Kosten
der Lebensfiihrung sich etwa um ein Viertel geringer
belaufen als in Rio de Janeiro.
- Bei der Betrachtung der Bodenschátze Brasiliens
mubf man von der obenerwáhnten Dreiteilung im Ge-
biete des tropischen, 'subtropischen und gemábigten
Klimas ausgehen.
Das Stromland der Amazonas umfabt die beiden
Staaten Pará und Amazonas. Das heife Klima mit
seinen starken Temperaturschwankungen macht Euro-
páern den Aufenthalt hier so gut wie unmóglich. Sie
finden sich deshalb auch nur in geringer Zahl als
Kaufleute in den Kontors der Handelsháuser vom
Pará und Manáos vor, miissen aber meist in recht
kurzer Zeit wieder verziehen, wollen sie nicht Opfer
- des gelben Fiebers werden. Das Territorium beider
78
Staaten ist fast ausschlieflich Urwaldgebiet. Vieh-
zucht betreibt man einzig auf der Insel Marajó, doch
geniigt die Ausbeute bei weltem nicht, den Bedarf
der Einwohner an Fleisch zu decken. Dieses mub,
wie auch die Mehrzahl der ¡ibrigen Lebensmittel, von
auswárts bezogen werden. Deshalb ist das Leben
dort kostspielig. Die Kosten und die Schwierigkelten
der Beschaffung der Nahrung, vor allem im Innern
des Landes, geben den Grund dafiir ab, weshalb die
Besiedelung trotz der grofen Verdienstmóglichkeiten
eine so schwache ist. Dies wird erst anders werden,
wenn einmal ein gróferes Bahnnetz es ermóglicht,
die Lebensmittel rascher und billiger herbeizufihren.
Die erste Reichtumsquelle bildet der Gummi. In
- ungeheuren Mengen und in etwa 14 verschiedenen
Arten gedeiht der Gummibaum in dem Urwaldgebiet.
Uberall findet er sich in Stámmen von einer Hóhe
bis zu 30 Metern vor, Seinen kostbaren Saft ge-
winnt man idadurch, daf3 man mit einer kleinen Axt
eine Wunde in den Baum: schliágt. Die herausspru-
delnde Milch sammelt man in Kannen und verar-
beitet sie noch am selben Tage zu Kautschuk. Ein
Arbeiter kann an einem Tage bis: zu 15 Kilogramm;
des wertvollen Produktes sammeln. Etwa zwei Drit-
tel der Weltproduktion an Gummi wird hier in den
Waáldern gewonnen und von Manáos am Mittellauf
des Amazonas úiber Pará nach allen Teilen der Erde
verschifft, Einen noch wertvolleren Exportartikel
bildet die Haut der Krokodile, die zu einem der
teuersten Luxusleder verarbeitet wird. Der Ama-
zones und seine Nebenfliisse wimmeln von Exem-
79
plaren der gróbten Krokodillenart, der Alligatoren,
die úberdies eine stete Gefahr fir die Menschen und
das Vich bilden. Um ihrer habhaft zu werden, treibt
man sie mit langen Stangen aus dem Wasser und
tótet sie mit der Axt. Die Kuhhirten, die dieses ge-
fáhrliche Handwerk besonders betreiben, haben es
zu einer grofen Geschicklichkeit in ¡hm gebracht.
Die Zahl der Alligatoren ist stellenweise eine derart
grobe, daf man bisweilen in wenigen Tagen auf
kleinen 'Strecken eine 'Beute von 3000 Stiicki erzielt hat,
Die fiinf nórdlichen Kiistenstaaten haben unter
der Ungunst des Klimas stark zu leiden. Abgesehen
von dem Kiistengebiete, in dem sich der Einfluf. des
Meeres fúhlbar macht, und in dem daher auch Acker-
bau getrieben wird, herrscht úiberall Mangel an Feuch-
tigkeit. Die grofen Ebenen des: Hinterlandes eignen,
sich daher nur zur Weidewirtschaft, deren Ertrág-
nisse aber háufig durch anhaltende Dirreperioden,
die ein grofes Sterben unter den Herden zur Folge
haben, vernichtet wird. Diese Staaten sind wegen
:hrer schlechten wirtschaftlichen Verháltnisse nur sehr
diinn besiedelt. Fir den Auswanderer kommen sie
nicht in Frage.
Sehr schwach bevólkert sind trotz ihrer giinstigen,
wirtschaftlichen Bedingungen die drei Zentralstaaten
Minás Geraes, Matto Grosso und Goyaz. Das Klima
in ihnen ist Dank der Hóhenlage und den zahlreichen
Gebirgen gesund. Weite Ebenen, die Camps, er-
móglichen in allen drei Staaten die Viehzucht in
gróbtem Umfange. Sie findet meist in der Form des
80
Grobbetriebs statt. Es ,gibt einzelne Giter, deren
Umfang den eines deutschen Kleinstaates úbertriftt,
und die einen Viebbestand von 80.000 Rindern auf-
weisen. Da man durchweg nur extensiv wirtschaftet,
d. h. mit einer móglichst geringen Zuhilfenahme von
Arbeit und Mitteln wie Kunstdiinger etc., erscheint
auch nur die Bewirtschaftung in einem gróferen Mab-
stabe ertragsfáhig. Ohne gtwas Kapital ist daher
hier cine Ansiedlung zu landwirtschaftlichen Zwecken
nicht ratsam. Fiúr einen kleineren Betrieb' ist immer-
hin ein Grundkapital von cirka 15000, fir emen
gróferen von 50000 Mark erforderlich. Die Land-
preise schwanken zwischen 20 bis 600 Mark pro
- Hektar. Die Vichpreise betragen ungefáhr: fir Zug-
ochsen 250 Mk., fir Kúhe 180 Mk., Pferde 200 bis
800 Mk., Esel 200 Mk., Gefliigel nach Art und
Gróñe 1-20 Mk. Die Erleichterungen, die friher
dem Landwirtschaft treibenden Teile der Einwan-
derer von Seiten der Regierungen dadurch bereitet
wurden, dalY man Staatskolonien schuf, auf denen
die Ansiedelung und der Grundstiickserwerb zu be-
sonders ginstigen Bedingungen móglich war, sind
heute auf Grund der schlechten Erfahrungen aufge-
hoben worden. Die weitere Vergiinstigung, da die
Befórderung der Einwanderer von ihrer Heimat bis
zur Kolonie auf Staatskosten erfolgte, wurde von
zahlreichon unlauteren Elementen dazu benutzt, sich
eine billige Uberfahrtsgelegenheit zu verschaffen.
Kaum am Bestimmungsort angelangt, verstanden sie
es, sich unter irgend einem Vorwand aus der Kolonie
zu entfernen, um in einer der Grofistádte zu ver-
81
schwinden. Mit der Beseitigung der Staatskolonien
ist manchem strebsamen Einwanderer, der nur iiber
geringero Mittel verfigte, eine gute Gelegenheit, sich
eine gesicherte Existenz aus kleinen Anfángen durch
seinen Fleif zu schaffen, genommen worden.
Minas ist der wichtigste der drei Zentralstaaten.
Seine Einwohner rihmen voller Stolz, dali: ihr Land
sich selbst geniige und nichts von aufen zu bezichen,
brauche. Aufñer da es iden eigenen Bedarf in allen
Dingen selbst zu decken vermag, ist Minas aber noch
bestimmt, eines der ersten Ausfuhrgebiete der Erde
zu werden. Sein ungeheurer Reichtum an Boden-
schátzen ist noch fast gánzlich unberihrt. Nur die
Goldgewinnung wird bereits rationell betrieben. Sie
erfolgt teils in der Gestalt der Goldwáscherei, teils
in bergwerklicher Form. Die sehr ergiebigen Werke
sind meist in Hánden englischer Gesellschaften, Die
Vorráte an Eisen und Erz, welche die Gebirge von
Minas bergen, und die so umfangreich sind, dal man.
annimmt, die ganze Welt kónne durch sie auf Jahr-
hunderte hinaus versorgt werden, fángt man jetzt erst
an auszubeuten, Dies ist dadurch móglich' geworden,
da man eine Bahnverbindung mit der Kiiste ge-
schaffen hat. Das Bahnnetz soll in Zukunft noch
weiter ausgedehnt werden. Der Bau der Bahnen und
Unternehmungen zur Fórderung der Bodenschátze,
sowie ihr Betrieb wird eine grofe Zahl von Arbeits-
kráften erfordern. Es ist auch anzunehmen, dali. die
italienische Konkurrenz, die bisher dort auf dem Ar-
beitsmarkt stark hervorgetreten ist, aus schon erwábn-
ten Grinden sich in Zukunft abschwáchen wird. Fúr
82
Ingenieure, MTechniker, Industrie- und Bergarbeiter
werden sich mithin die Aussichten giinstig gestalten.
Die Einkommensverháltnisse dieser Berufe waren in
Minas bisher ungefáhr folgende: Ingenieure bis zu
600 Mk. monatlich; Monteure 12,50 Mk., Mechaniker
7,50 Mk., Schmiede 7,50 Mk., Bergleute 6,50 Mk.
und Bauhandwerker bis zu 6,50 Mk. táglich.
Die fiinf mittleren Kiistenstaaten haben bis! auf
das Innere, in der Diirre und Trockenheit vorherrscht,
ein gesundes Klima. Die Kiiste ist reich an guten
Háfen, von denen aus die beiden wichtigsten Erzeug-
nisse dieser Staatengruppe zum Export gelangen:
Kakao und Zucker, Die Ausfuhr am Kakao beláuft
sich auf etwa 30 Millionen Kilogramm jáhrlich. Der
Ertrag ist seit 2 Jahrzehnten deshalb so gestiegen,
- weil man erst von dieser Zeit ab dazu iiberging, geord-
nete Plantagen anzulegen. Der Anbau ist zwar sehr
múhsam, doch auferordentlich lohnend. Der Kakao-
baum erreicht eine Hóhe von 3—4 Meter und trigt
ungefáhr 35 Friichte. ¡Geerntet kann zweimal im
Jahre werden. Von hundert Báumen erzielt man
jáhrlich etwa 60 Pfund Kakao. Fiir die Verarbei-
tung des Zuckerrohrs bestehen zahlreiche Fabriken.
Die gróbten Zuckerraffinerien befinden sich in der
_Umgebung HPernambucos und Bahias. Auferdem
wird in zahlreichen Kleinbetrieben aus Zucker Alko-
hol und Branntwein bereitet. Auf die Lebensverhált-
nisse wirkt es unginstig ein, dali man iiber dem An-
-bau von Kakaobáumen und Zuckerrokr die Erzeu-
gung aller ibrigen Bodenprodukte vernachlissigt.
/ Diese Monokultur hat zur Folge, daf die meisten
83
6*
Bedarfsartikel von aufen bezogen werden miissen,
wodurch eine ganz unnótige Preissteigerung eintritt.
Das Wirtschaftsleben der finf siidlichen Staaten :
Rio de Janeiro, Saó Paulo, Paraná, Santa Catharina
und Rio Grande do Sul ist am besten entwickelt.
Es liegt dies nicht allein an der Qualitát der Boden-
beschaffenheit, die in weiten Gebieten des Nordens
nicht minder gúnstig ist, sondern vor allem an dem
Klima und der Art der Bevólkerung. Dies Klima
ist infolge der weiteren Entfernung vom Aquator
frischer und gesunder, die Temperaturverháltnisse
durch die regelmábigen Niederschláge wesentlich bes-
ser. Der Siden eignet sich daher ¡auch in ganz
anderem Mabe fir die weife Rasse als der Norden.*
Es findet sich auch hier der weitaus grófte Teil der
weifen Bevólkerung, Brasiliens. Hierhin wendet sich
auch mit Recht die úberwiegende Mehrzahl der Ein-
wanderer aus Europa, fir die es natirlich von beson-
derem Werte ist, klimatische Verháltnisse vorzufinden,
die móglichst denen áhneln, die sie verlassen haben,
und an die ihr Kórper gewohnt ist.
a
y
Die Weifen sind an sich schon unternehmungs-
lustiger und tatkráftiger als die Neger und die Ín-
dianer, Zu dem ist es hinreichend bekannt, wie die
Hitze erschlaffend auf die Arbeitsfreudigkeit ein-
wirkt. Es ist daher leicht erklárlich, daf der
káltere Siiden mit seiner iberwiegend weifen Bevól-
kerung eine intensivere, d. h. planvollere Bewirt-
schaftung des Bodens und einen gróberen Reichtum.
an Industrieunternehmungen aufweist als der Norden.
84
Hiezu -kommt noch die bessere Ausgestaltung den
Verkehrsmóglichkeiten. Das Innere. wird mit der
Kiiste nicht nur durch eine ganzei Reihe schiffbarer
Fliisse, sondern auch durch ein recht gut ausgebautes
Bahnnetz verbunden.
Beziiglich der Bewirtschaftungsart des Bodens
mul zwischen den nórdlicher gelegenen Staaten Rio
de Janciro und Saó Paulo gegeniiber den drei siid-
licher gelegenen ein Unterschied gemacht werden. In
ersterem herrscht námlich wie in iden mittleren Kiisten-
staaten der Grofgrundbesitz vor. Dies gilt vor allem
fiir den bedeutendsten Wirtschaftszwelg dieser Staaten :
den Kaffeebau. Etwa vier Fiinftel des Weltkon-
sums an Kaffee werden hier erzeugt. Besonders in
Saó Paulo gedeiht der Kaffeestrauch in einer ganzen
Anzahl von Arten, unter denen sich einige befinden,
deren Produkt an Gite dem beriihmten: afrikanischen
Kaffee (Mokka) nicht nachsteht und vielfach auch
unter diesem Namen in den Handel gebracht wird.
Die Kultur und Behandlung des Kaffeestrauches er-
fordert viel Arbeit. Die grofen Kaffeeplantagen,
die den Namen Fazendas fihren, benótigen daher
zahlreiche ¡Arbeitskráfte. Die Regierungen und Unter-
nehmen- waren infolgedessen stets bestrebt, die Ein-
wanderer nach diesen Plantagen hinzuzichen. Man
verwandte sie entweder gegen einen Tagelohin von
vier bis fiimf Mark unter Zuweisung eines kleinen
Háuschens mit einem Stickchen Land, oder man
“ iiberlief) ihnen eine grófere mit Kaffeestráuchern be-
pílanzte Fláche zur eigenen Bebauung mit der Ver-
pflichtung, die Hálfte der Ernte an den Grundbesitzer
85
abzuliefern. Die Erfahrung hat gelehrt, daf die
Arbeit auf den Kaffeeplantagen den deutschen Ein-
wanderern wenig liegt. Obendrein reicht ihr verhált-
nismábig geringer Ertrag kaum zur Deckung der Le-
bensbediirfnisse aus. Man findet daher hier auch
vorwiegend den geniigsameren Italiener vor. Zur
Grindung einer eigenen Plantage, die fiir den Be-
sitzer einen guten Verdienst abwirft, benótigt man ein
Kapital von mindestens 75000 Mark. Neben dem
Kaffeebau kommt in beiden Staaten in gróberem
Umfange nur moch die Viehzucht in Betracht. Fiir
diese eignen sich die weiten Hochebenen von Saó
Paulo. Zur Errichtung eines Viehzuchtbetriebes
braucht man etwa 20000 Mark. Getreide wird wenig
angebaut. Der Ackerbau befaft sich vor allem mit
dem Anbau von Reis und Mais. Ein Hektar Land
kostet durchschnittlich 45 Mark. Die Lóhne fir
Landarbeiter schwanken zwischen 3 und 4 Mark.
Gutsverwalter und -Inspektoren erhalten bei freier
Station etwa 200—380 Mark. Recht lohnend kann
die Zucht von Gemiise und Obst werden. Sie elgnet
sich fiir den Kleinbetrieb und daher auch fiir den
Ejnwanderer, der iiber geringere Mittel verfigt. File
ein Hektar Gartenland muf man durchschnittlich
55 Mark anlegen. Gemiise gedeiht zum Teil vor-
trefílich. Besonders beliebt ist die Bohne, die in
marmigsfachsten Sorten vorkommt, und die bei keiner
brasilianischen Mahlzeit fehlen darf. Den Obst-
bau fángt man erst neuerdings stárker zu betreiben
an. Da sehr gute Vorbedingungen gegeben sind, kann
man ihm eine reiche Zukunft voraussagen. Orangen,
86
Ananas und vor allem Bananen diirften einen be-
- deutenden Exportartikel abgeben. Eine ganz spezielle
Erwerbsart in diesen Staaten bildet die Zucht der
Orchideen. ¡Sie gedeihen dort in den Gebirgswal-
dungen in einer reichen Auswahl 'an Arten. Auf
dem europáischen Blumenmarkt erzielen sie zum Teil
sehr hohe Preise. Die Orchideenkultur ist daher ein
recht eintrágliches Gewerbe, das strebsamen Fach-
leuten die Aussicht auf einen guten Verdienst eróffnet.
Rio de Janeiro und Saó Paulo sind die Indu-
striestaaten Brasiliens. Die Unternehmungen stammen
sámtlich aus der jiingsten Zeit. Sie haben in verhált-
nismábig wenig Jahren eine glinzende Entwicklung
genommen, die ihnen eine sehr gute Zukunft ver-
spricht. Der Exporthandel der Union und der in
Frage kommenden europáischen Staaten spiirt fiir eine
Reihe von Gebieten auf dem brasilianischen Markte
die neue inlándische Konkurrenz schon ganz empfind-
lich. Ausgebildet hat sich vor allem die Textil-
- industrie, die Bierbrauerei, die Glas- und Papierfabri-
- kation. Die Unternehmungen tragen zumeist den Cha-
-—rakter von Grofibetrieben, d. h. sie bescháftigen meh-
rere Hunderte von Arbeitern. In Rio bestehen auber-
dem mehrere bedeutende Hut- und Schuhfabriken.
Die Grindung eines meuen eigenen Betriebes, Fiir
den die Aussichten an sich ginstig liegen, ist einem
Einwanderer erst dann anzuraten, wenn er sich durch'
lángeren Aufenthalt im Lande eine genaue Kenntnis
der brasilianischen Arbeits- und Marktverháltnisse
- verschafft hat. Bei der Anstellung in den bestehenden
Unternehmungen war bisher die Konkurrenz der ita-
87
lienischen Arbeiter, die nur geringe Lohnanspriiche
stellten, stark fihlbar. Dieser Umstand wird mit
dem zu erwartenden Riickgang der italienischen| Eán-
wanderung wegfallen. Der úbliche Gehalt fiir hóhere
Angestellte, wie Chemiker, Betriebsleiter bewegt sich!
zwischen '300—650 Mark 'monatlich. Gelernte Ar-
beiter erhalten einen Tagelohn von 6—10 Mark.
In den drei siidlichsten Staaten Santa Catharina,
Paraná und Rio Grande da Sul wird in der óstlichen,
nach der Kiiste gerichteten Zone, die zum Teil Ur-
waldgebiet ist, vorwiegend Landwirtschaft, in der
westlichen, im Innern des Landes gelegenen, meistens
aus “Hochebene bestehenden, Viehzucht getrieben.
Meist finden sich Grofbetriebe, die úiberwiegend in
brasilianischen Hánden liegen. Die Landwirtschaft
wird dagegen zumeist als Kleinbetrieb gestaltet. Das-
selbe gilt fir die geringe Industrie, die sich im den
Stádten vorfindet. Fiir den Eirwanderer, der nur
ber geringe Barmitteln verfúgt, liegen deshalb in
diesen Staaten die Aussichten am giinstigsten. Uber-
dies ist in ¡hnen das Klima fir Europáer am geelg-
netsten, und die Kosten er Lebenshaltung sind ge-
ringer als im úbrigen Brasilien, da die wichtigsten,
Lebensmittel in dem Staate selbst erzeugt werden.
Die landwirtschafttreibenden Einwanderer siedeln sich
in Kolonien an. Bei diesen unterscheidet man, Staats-:
und Privatkolonien. Die Staatskolonien wurden so-
wohl von der Bundesregierung als auch von den
Verwaltungén der einzelnen Bundesrepubliken errich-
tet, in der Absicht, tiichtige Landwirte nach Brasilien
zu zichen. Die Ansiedelungsbedingungen, die in den.
88
Einzelheiten verschieden gestaltet waren, gewáhrten:
im wesentlichen freie 'Uberfahrt aus Europa, billige
Uberlassung von Land und Geráten und staatliche
Unterstittzung fir die erste Zeit. Solche Staats-
kolonien werden, wie schon erwáhnt, in Folge wieder-
holter schlimmer Erfahrungen, die die einzelnen Staa-
ten machen mubten, gegenwártig nicht mehr neu ge-
griindet.
Die Privatkolonien sind teilweise unter Beginsti-
gung der Regierungen von Privatpersonen oder Ge-
sellschaften errichtet. Die Unkosten werden aus dem;
von den Kiolonisten entrichteten Kaufpreise gedeckt.
Die Organisation ist gróftenteils gut. Ausschlagge-
bend fiir die Entwickelung der Kolonien sind gute
Verkehrsgelegenheiten, vhne die der Abtransport der
gewonnenen Produkte unmóglich ist. Das einzelne
Kolonielos, das der Einwanderer erwirbt, umfabt
zwischen 25 und 30 Hektar. Da es aus Urwald-
gcbiet besteht, sind die ersten Jahre recht miihsam
“und erfordern schwere und geduldige Arbeit. Der
neue Ansiedler mul: sich meist seinen Haushalt selbst
bauen und begniigt sich daher fir den Anfang mit
einer primitiven Behausung. Ist diese eingerichtet,
so geht es zunáchst an die Rodung des Waldes. Die
dickeren Stámme werden nutzbringender Verwendung
-zugefúbrt, wáhrend im ibrigen an das abgeholzte Ge- .
lánde Feuer angelegt und es somit von Gestriipp
und Gehólz gesáubert wird. Es dauert aber eine
Reihe von Jahren, bis das Wurzelwerk im Boden
vóllig verfault ist, und das dem Urwald abgerungene
¡Ackerland mit dem Pflug bearbeitet werden kann.
89
Bis dahin pflanzt man entweder mit der Hacke
Kartoffel, oder man baut Mais, Bohnen' und Kiirbis
in der Weise an, daf man die Kórner in Lócher
legt, die in den Boden gestofen: und dann wieder
leicht zugeworfen werden. Ein festes Wohnhaus mit
¡einer Scheune errichtet sich der Ansiedler erst, wenn
er sein Land zu einer bestimmten Ertragfáhigkeit kul-
tiviert hat. Fiir die Produktion der einzelnen Kolo-
nien ist 1hre Entfernung von den Stádten mabgebed.
Ist diese nicht allzu groff, so versorgt man ihre
Márkte mit Gemise, Friichten, Butter und Eiern.
Andernfalls wird mehr der Anbau von Kartoffeln,
Getreide, Mais und Bohnen betrieben und die Ge-
fliigelzucht und Schweinemast gepflegt. Teilweise
wird auch Tabak angepflanzt, der dann in den Fa-
briken der Stádte zur Verarbeitung gelangt.
Die Hóhe des Ertrags hángt im wesentlichen von
dem Fleif ab, den der Kolonist auf sein Besitztum
verwendet. In den ersten Jahren, bis der Boden voll
anbaufáhig ist, kann mit einem gróberen Verdienst
áuch bei angestrengter Arbeit nicht gerechnet werden.
Es miissen sogar meist sámtliche Familienangehórige
-kráftig mit Hand “anlegen, sollen die Unkosten heraus-
gewirtschaftet werden. Oft ist es iiberhaupt erst die
zweite Generation, die mehr als ihr Auskommen fin-
det und zu einem gesicherten Wohlstand gelangt.
Dies Ziel erreicht aber mit der Zeit jede arbeitsame
Kolonistenfamilie, und diese Gewifheit und das, Ge-
fihl, auf eigenem Grund und Boden zu leben, miissen
iiber die Schwierigkeiten und Miihsalen der ersten
Zeit hinweghelfen.
90
¡Fúir die freien Berufe liegen die Aussichten in
den einzelnen Staaten verschieden. Am: ginstigsten
sind sie in den nórdlichen Staaten, doch muf man
trotzdem wegen der Ungunst des Klimas dringend
von einer Niederlassung dort abraten. Árzte und
Apotheker diirfen in einer Reihe von Staaten wie
Rio de Janeiro, Parana, Saó Paulo ihre Tátigkeit
erst ausiiben, wenn sie zuvor nochmals ein brasiliani-
sches Examen abgelegt haben, in den anderen geniigt
der Besitz eines beglaubigten Diploms. In den Stád-
ten ist die Klonkurrenz sehr stark. Auf dem Lande
liegen die Verháltnisse ginstiger. Als besonders
geeignet kommt der Staat Minás in Frage. Die
¡Tátigkeit des Landarztes wird aber durch den Man-
gel an Verkehrsgelegenheiten erschwert. Spezial-
árzte finden nur in den Grofistádten Bescháftigung.
Fúr die Konsultation erhált der Arzt cirka zehn
Mark. Reisen iiber Land werden entsprechend ver-
gitet. Der Durchschnittsverdienst der Apotheker be-
láuft sich monatlich auf 500 Mark. Juristen haben -
so gut wie keine Aussichten. Die deutschen Nieder-
lassungen haben noch nicht die geniigende Einwohner-
zahl, um eine besonders geschulte Verwaltung zu be-
nótigen. Ob Offiziere in der brasilianischen Armee
als Instrukteure oder im Frontdienst Verwendungl
finden kónnen, láBt sich heute nochi nicht feststellen,
Philologen werden in erster Linie als Hauslehrer An-
stellung erhalten. Die Gehaltsskala bewegt sich zwi-
schien 150 und 350 Mark bei freier Station. Es wer-
den ziemliche Anforderungen zumal an die Sprach-
kenntnisse gestellt. Fertigkeit in der englischen, fran-
91
zósischen, deutschen und portugiesischen Sprache ist
meist Bedingung. Theologen finden einen Wirkungs-
kreis nur in den deutschen Ansiedelungen und auch
nur durch Vermittelung des Evangelischen Oberkir-
chenrats in Berlin oder der Evangelischen Gesell-
schaft fir die protestantischen Deutschen in Amerika
zu Barmen. Kaufleute erhalten je nach ihren Lei-
stungen von 150 bis zu 600 Mark Monatsgehalt.
Auch bei ihnen werden grindliche und umfassende
Sprachkenntnisse gefordert. Unginstig “ist es, dabi
in einigen Staaten vor allem im Súden eine Kiindi-
gungsfrist micht úblich ist. Die meisten Handels-
háuser, die europáische Angestellte bescháftigen,
pflegen diese in ¡hrer Heimat engagieren zu lassen.
Da das Angebot an Kaufleuten grof, ist, soll nur der
nach Brasilien gehen, der eine feste Anstellung in
der Tasche hat. Hauspersonal mánnlichen und weib-
lichen Geschlechts ist gesucht. Die Lóbne sind gut.
Auch hier ist vielfach Abschlufb des Engagements
in Europa iiblich. Weibliche Personen tun in jedemi
Falle gut daran, iiber die Persónlichkeit des Dienst-
herrn vor Eingehen einer Verpflichtung genaue Er-
kundigungen einzuziehen.
3) Das Deutschtum in Brasilien.
Man hat von jeher dem Auslandsdeutschen vor-
geworfen, dal er im Gegensatz zu den Angehórigen
anderer Nationen in der Fremde sehr rasch seme
vólkische Eigenart und das Gefihl der Zusammenge-
hórigkeit-zu seinem alten Vaterland verliere. Dio
Erfahrungen des Krieges haben die Wahrheit die-
ser Behauptung bestátigt. Uberall in den Lándern
unserer Feinde und der Neutralen sah man Leute;
mit kerndeutschen Namen, von denen feststand, dali!
selbst noch die Váter auf deutscher Erde geboren:
waren, nicht nur nichts unternehmen, der Sache des
von allen Seiten bedrángten Deutschlands beizustehen,
sondern sogar es an Schmáhungen und Verleumdungen
den fanatischsten unter unseren Gegnern gleichtun.
Man kann diese bittere Tatsache micht einfach mit
Charakterlosigkeit erkláren. Es ist nun einmal eine
“traurige Wahrheit, daf in dem Deutschen der Natio-
nalstolz weniger ausgeprágt ist als bei anderen, vor
93
allem bei den romanischen Vólkern, und daf' sich
bei ihnen die gerade von deutschen Dichtern so viel
besungene Liebe zur angestammten Heimat leicht
durch den Gedanken, wo es mir gut geht, ist mein
Vaterland, verdringen lift. Es mag dies darauf
zurúickzufihren sein, dalY ihnen die Geschichte ver-
háltnismábig spát in der staatlichen Eimheit des: Rei-
“ches das zusammenschliefende ¡nationale Band ge-
schenkt hat. Ubrigens trifft Deutschland selbst ein.
gut Teil der Schuld daran, dabi so viele seiner Lan-
deskinder in der Fremde mit ihm aufer Fúhlung
kamen. Wáhrend andere Staaten, z. B. Frankreich,
alles daran setzten, mit ihren im Ausland ansássigen
Angehórigen in “Verbindung zu bleiben, hat unsere
Auslandspolitik auch hier eine schwere Unterlassungs-
siinde begangen, die sich dann in den Zeiten der Not
gerácht hat. Móge dies in der Zukunft anders wer-
den, zu Nutz und Frommen des deutschen Reiches
und seiner Auswanderer.
Es kommt hier noch eine Reihe weiterer Mo-
mente in Frage, NWVenn der Deutsche auswandert, so
geschieht dies in der iiberwiegenden Mehrzahl der
Fálle, um endgiúltig Abschied von der alten Heimat
zu nehmen. Bei Angehórigen anderer Nationen, trifft
dies nicht immer zu. Sie, wie z. B. die Italiener,
ziehen úber See, um sich dort ein Vermógen zu er-
werben, mit dem 'sie idann nach Europa zuriickkehren
wollen. Selbst wenn diese Riickkehrabsicht bis-
weilen spáter wieder pufgegeben wird, sie kettet
doch zum wenigsten anfánglich an das frihere Vater-
land. Es ist fernerhin bekannt, wie wenig sich der
94
A
Deutsche im Ausland an seine Landsleute anschlieft.
Gerade hier aber gibt eine rege Geselligkeit einen
besonders guten Boden fiir die Pflege nationaler
Eigenart ab. Findet sich eine solche Geselligkeit
vor, so trágt sie meist die Form von Gesangvereinen
und Kegelklubs. Diese bilden iiberwiegend, vor al-
lem in Nordamerika, die typischen Vereinigungen,
in denen Deutsche miteinander verkehren. Ein enge-
rer Anschlub, in dem der Gedanke gemeinsamer
Abstammung idas Bindeglied fiir ein gemeinschaft-
liches Zusammenleben bildet, ist dagegen recht selten.
Wo sich aber derartige deutsche Kolonien finden,
da haben sie immer glánzend bewiesen, daf' sie die
besten Tráger des Deutschtums im Ausland und zu-
_gleich das geeignetste Mittel bilden, dem: Deutschen:
dort seine Eigenart zu erhalten. In Siidamerika hat
nun die deutsche Ansiedelung in einem Mae wie
in keinem anderen FErdteil die Form der Kolonie
gewáhlt. Das deutsche Element hat sich infolge-
dessen dort rein erhalten, woraus die Berechtigung
entsteht, von einem besonderen Deutschtum in Siid-
amerika zu sprechen. Seine Bedeutung 1st fiir einige
Staaten, besonders fiir Brasilien und Argentinien, der-
art grob), dai selbst eine kurze Darstellung der Ver-
háltnisse dieser Lánder unvollstándig bleibt, die es
unterláSt, die Stellung, die das Deutschtum in ihnen
einnimmt, zu wiirdigen. Drei Griinde sind es, die
im wesentlichen hier der Entwicklung der deutschen
Einwanderung diesen Weg gewiesen haben. An erster
Stelle steht der Umstand, daf; die Einwanderer vor-
wiegend Landwirte waren. NWáhrend die Angehóri-
95
gen anderer Berufszweige einzeln oder hóchstens mit
ihrer engsten Familie in die Ferne ziehen, ist es die:
charakteristische Eigenschaft der báuerlichen Aus-
wanderung, dab: sie in Gruppen stattfindet. Dies wird
durch die Art der landwirtschaftlichen Tátigkeit be-
dingt. Der Landmann, der selbstándig bleiben und
auf eigenem Grund und Boden wohnen will, kann
dies Ziel allein niemals erreichen. Er benótigt Un-
terstitzung durch eine Reihe werktátiger Hánde, die
sich mit ¡hm in die Bestellung von Haus, Hof und.
Land teilen. Die geborenen Helfer sind die Familien-
mitglieder. Die gemeinsame Arbeit an der Erhaltung
und Bebauung des angestammten Grundbesitzes hált
deshalb auch die báuerliche Familie lánger und fester
zusammen; als dies bei irgend einem anderen Stande -
zutrifft, in dem sich meist die Kinder ráumlich von
den Eltern trennen, sobald sie die Fáhigkeit zu elge-
nem Verdienste erlangt haben. Wenn die báuerliche
Familie daher beschlieft, sich in der Neuen Welt
anzusiedeln, so gehen «alle mit, nicht nur die unmiin;
digen Kinder, sondern meist auch die erwachsenen
Tóchter und Sóhne, die oft ihrerseits bereits eine
Familie haben, die ihnen selbstverstándlich ebenfalls
folgt. Háufig schliefen sich auch mehrere befreun-
dete, báuerliche Familien zusammen und fassen den
Plan, sich gemeinsam niederzulassen, um sich unter
gegenseitiger Hilfe eme neue bessere Heimat zu
schaffen. Den Anlaf zur Auswanderung bilden nicht
immer die miblichen wirtschaftlichen Verháltnisse.
Ihre politische Denkungsweise hat schon viele, beson-
ders im 19. 'Jahrhundert zum Wanderstabe greifen
96
lassen. Nicht nur in Rubland, wo die Herrschaft
des Zaren auf allen freiheitlich Gesinnten besonders
schwer lastete, auch in Deutschland gab es Zeiten,
in idenen grofe Scharen das Vaterland verliefen,
weil sie glaubten, dort nicht lánger mehr als freie
Menschen leben zu kónnen. Dies war vor allem in
den fiinfziger Jahren der Fall, die erfiillt sind von
dem ohnmáchtigen Ringen des Volkes mit einer mit
eiserner Gewalt durchgefiihrten Reaktion. Die da-
mals nach Amerika zogen, um sich dort in den Láin-
dern der Freiheit anzusiedeln, haben zu den Besten
des deutschen Landes gehórt. In diese Zeit fallen
die ersten Griindungen deutscher Klolonien in Brasi-
lien. Kiámpfer fiir die deutsche Freiheit haben sie
geschaffen und sind dadurch zu Vorkimpfern des
Deutschtums in der Neuen Welt geworden. Durch
ihren Fleif haben sie dem Urwald weite Ackerflácheni
abgerungen und da, wo friher undurchdringliches
Dickicht war, Dórfer und Stádte aufblihen lassen,
deren Anblick dem Reisenden ein Stick Deutsch-
land in Mitten Brasiliens vor Augen fiihrt. Zur
gruppenweisen Ansiedelung der ¡Auswanderer hat
schlieflich in den letzten Jahrzehnten vor allem die
Einwandererpolitik' der brasilianischen Staaten so-
wie die Tátigkeit der deutschen Kolonial--Gesell-
schaften beigetragen. Der Errichtung von Staats-
- kolonien seitens der Regierungen wurde bereits Er-
wábnung getan. Sie haben insofern zur Erhaltung
des Deutschtums beigetragen, als sich die einzelnen]
Mitglieder immer nur aus Angehórigen einer bestimmten
Nationalitát zusammen setzten. Es wurde ebenfalls
97
d
schon hervorgehoben, daS' solche Kolonien zur Zeit
nicht mehr neu gegriíndet werden. Immerhin ¡ist es
aber nicht ausgeschlossen, daf die Riickwanderung
der Italiener und Slawen die Staaten Brasiliens veran-
lat, die fiir die Einwanderer so segensreiche Ein-
richtung wieder aufleben zu lassen. Von deutschen
Unternehmungen mit dem Zwecke der Grindung
deutscher Ansiedelungen in Brasilien kommen die
Hanseatische Kolonialisationsgesellschaft und idas Ko-
lonisationsunternehmen von Dr. Meyer, Leipzig,
in Betracht. Dia preubische Regierung hatte iml
Jahre 1859 ein ebenso unkluges wie unerklárliches
Verbot der Auswanderung nach Brasilien erlassen,
das erst 1897 wieder aufgehoben wurde. Als darauf-
hin eine starke HAuswanderung nach Brasilien ein-
setzte, wurde in Hamburg die Hanseatische Koloni-
sations-Gesellschaft, kurzweg ,,Hansa” genannt, im
Interesse der deutschen Ansiedelung in der klimatisch!
und wirtschaftlich fir Deutsche besonders giinstigen:
-Siidstaate Santa Catharina gegriindet. Die Beding-
ungen, unter denen die Ansiedelung auf den der ,,Han-
sa” gehórenden Liándereien erfolgt, sind unter den
Mitwirkung der Reichsregierung festgesetzt. Sie er-
móglichen es einem Auswanderer, der auch nur úiber
einige hundert Mark Barmittel verfigt, mit der Zeit
ein wohlhabenider Mann auf eigenem Grund und
Boden zu werden. Die einzelnen Kolonielose um-
fassen eine Fláche von ungefáhr finfundzwanzig Hek-
tar (100 Morgen). Bei der Preisberechnung geht
man von einer Einteilung des Bodens in drei ver-
schiedenen Qualitáten aus. Der Morgen erster Gite
98
kostet durchschnittlich 11—12 Mark, der zweiter
9—10 Mark, der dritter 7-8 Mark. Die Preise
der sogenannten Stadtplátze, die dort liegen, wo man
die Bildung kleiner Verkehrszentren beabsichtigt,
sind etwas hóher. Dasselbe gilt fiir diejenigen Lose,
auf denen die erste kolonisatorische Arbeit wie Ro-
dung des Urwaldes, Errichtung eines Wohnhauses:
etc., bereits vorgenommen ist. Ratenzahlung ist úb-
lich, bei sofortiger Zahlung werden zehn Prozent Ra-
batt gewáhrt. Zinsen wvom gestundeten Kaufpreis
darf die Gesellschaft jerst nach zwei Jahren fordern.
Sie hat die Verpflichtung zur Errichtung von Schu-
len und Kirchen, sowie zur Anstellung von Arzten.
Auch muf sie die Befórderung und Verpflegung
der neuen Ansiedler vom Ausschiffungshafen S. Fran-
zisko bis zum Siedelungsgebiet unentgeltlich besor-
gen und ihnen bis zur Erbauung einer provisorischen
-Wobhnstátte, mindestens aber auf einen Monat, freie
Unterkunft, jedoch ohne freie Bekóstigung, in einer
nahen Einwanderer-Herberge gewáhren. Vor dem
Kriege erfolgte die Befórderung der Auswanderer,
deren Ziel die Kolonie Hansa; bildete, ¡durch die Ham-
- burg-Amerika-Linie und den Norddeutschen Lloyd
fiir den mábigen Preis von 150 Mark. Wie es sich
in Zukunft verhált, hángt von der Gestaltung des
bis heute noch idunklen Schicksals dieser unserer
beiden stolzen Schiffahrtslinien ab. Die Lándereien
der ,,Hansa'* weisen nur wenig ausgesprochenes Flach-
land auf. Wie das ganze Gebiet des Staates Santa
Catharina sind sie durchzogen von malerischen Berg-
- ziigen, die auf sechs- bis achthundert Meter empor-
99
qe
steigen, an deren Abhángen der beste Boden liegt,
der durch zahlreiche Flubláufe bewássert wird. Das
Wachstum ist vorziglich, nur leidet der Áckerbau
etwas unter den Ameisen, die den jungen Pflanzen-
trieben sehr schádlich werden kónnen. Ginstig lie-
gen die Verháltnisse auch fir die Viehzucht, zu de-
ren Betrieb in kleinem Umfang ein Kapital von
3000—4500 Mark erforderlich ist. Die Absatz-
móglichkeit fir die Produkte hat sich durch die grobe
Bahn, die von Rio Negro aus nach San Franzisko
gefihrt ist, wesentlich gebessert, noch wichtiger aber
wird die Eróffnung der Linie werden, die eine Ver-
bindung zwischen Hammonia, den mit seinen zwWel-
cinhalbtausend Einwohnern bedeutendsten Ort der
Hansa-Kolonie und Blumenau, der bedeutendsteni
deutschen Siedelung herstellt. Die Kolonie Blumenau
wurde im Jahre 1852 von Dr. Hermann Blumenay
aus Braunschweig mit 18 Begleitern gegrindet. Es
“stellt eine fast einzigartige kolonisatorische Leistung
dar, wie im Laufe weniger Jahrzehnte deutsche An-
siedler es verstanden haben, ohne nennenswerte staat-
liche Unterstitzung aus eigener Kraft diese be-
scheidene Ansiedelung zu einem Gemeinwesen von
50.000 Einwohnern, darunter 37000 Deutschen, zu
entwickeln. Die Grófe der aufgewandten Arbeit
kann man erst ermessen, wenn man erwágt, dal, ein
Gebiet, das an Umfang dem Grofherzogtum. Hessen:
gleichkommt, aus Urwald zu bliihendem Acker-, Gar-
ten- und Weideland umgeschaffen wurde, dal man
hunderte Kilometer von Wegen anlegen mubte und
dab da, wohin noch vor nicht allzu langer Zeit keines
100
Menschen “Fu trat, heute eine ganze Reihe lachen-
der Siedelungen mit mnehr als hundert Schulen und
Kirchen liegt. Den geistigen und Handelsmittelpunkt,
zugleich den Sitz der Verwaltung, des Municipiums
Blumenau bildet das ¡gleichnamige Stádtchen, das
zusamimen mit seiner Vorstadt Altona etwas úúber
zweitausend Einwohner záhlt. Inmitten einer durch
Schónheit und Fruchtbarkeit gleich ausgezeichneten
Landschaft gelegen, gibt der ruhige, weitliufig ge-
baute Marktflecken ein Bild ab, wie man es welt
eher in Mitteldeutschland als im Siiden Brasiliens
sucht. Bis zur Vollendung der eben! genannten Bahn
war ein grofer Nachteil Blumenaus sein Mangel an
guten Verkehrsverbindungen. Zu dem náchsten See-
hafen Itajahy konnte man nur mittels kleiner Dampf-
boote auf dem gleichnamigen Flusse kommen, der
die Hauptstrade von Blumenau entlang flieft, und
dessen Uberschwemmungen schon háufig grofen Scha-
den gestiftet haben, wiáhrend es zu der náchsten
Babnstation Jaragua einer Reise von anderthalb Tagen;
bedurfte. Die neue Linie stellt die gesegneto Kolonie
vor eme reiche Entwicklungsmóglichkeit, die auch!
frisch zuziehenden Einwanderern gute Aussichten er-
sffnet. Der von der deutschen Bank geplante, grof-
artige Bahmbau, der cine Verbindung von Itajahy
iiber Blumenau nach Hammonia bis an die argenti-
nische Grenze mit unmittelbarem Anschluf an die
- Strecke Buenos-Aires vorsah, diirfte unter den gegen-
wártigen Unmstánden, die an Unternehmungen deutschen,
-Kapitals im Ausland nicht denken lassen, leider in
absehbarer Zeit nicht zur Ausfihrung gelangen.
101
Etwa 150 Kilometer von Blumenau entfernt liegt
Joinville, der Hauptort der Kolonie Donna Frans
ciska, die eine Griindung der nicht mehr bestehenden!
Hamburger Kolonialgesellschaft darstellt. An úip-
piger, tropischer Vegetation ¡ibertrifft dieser Nord-
ostwinkel Santa Catharinas womóglich noch Blumenau,
Die Hauptstadt der etwa 30000 Bewohner umfas-
senden Kolonie Joinville bildet mit ihren 9000 Ein-
wohnern, von denen mehr als dreiviertel Deutsche
sind, die grófte und zweifellos auch die schónste -
der wirklich deutschen Stádte Brasiliens. Fiir die
Entwicklung des Municipiums war es von giinstigem
Einflub, daf' Joinville in der ¡grofen ,Donna-Fran-
ciska-Strafe” genannten Chaussee frihzeitig eine gute
Verbindung nach Rio Negro besaf, die jetzt durch
die neue Bahmlinie Sao Francisko-Serrinha (in Pa-
rana) noch verbessert ist.
Súdlich von Blumenau grenzt das, die ganze Ost
hálfte von Santa Catharina ausfillende Municipium -
Brusque an. Von seinen 16000 Einwohnern sind
10000 Deutsche, 4000 Tiroler und 2000 Brasilianer.
Die Kolonie ist wie auch ihr gleichnamiges Stádt-
chen eine Griindung larmer hunsriicker und schles-
wigscher Bauern, deren Familien heute als Patriziat
die Leitung der Kolonie besorgen. Brusque besitzt
eine aufstrebende Industrie. An erster Stelle steht
die Baumwollspinnerei, deren Produkte im ganzen
Lande sehr gesucht sind. Daneben gibt es Zement-,
Essig- und Spiritusfabriken, -Ságewerke und eine
grobe Gardinenfabrik. Um die Griindung neuer Un-
ternehmungen zu begiinstigen, hat man den neuen Un-
102
ternehmern fir die ersten zehn Jahre vóllige Steuer-
freiheit zugesichert. Da aulerdem die Lebensunter=
haltung hier billig ist, erscheint Brusque als ein fiin
Einwanderer sehr ginstiger Platz. Fiir die Indu-
strie ist es bedeutsam, dali der Itajahy-Flub einen
bequemen und billigen Transportweg nach der See
bildet. Den Verkehr mit dem Seehafen Itajahy ver-
mitteln Flufdampfer zweimal wóchentlich in regel-
máfigen Fahrten. Eine bóse Plage fir die Kolonie
stellen die ,Buger” genannten, wilden Indianer dar,
die in den dichten Wáldern der Randgebirge hausen
und von dort aus in ráuberischen Streifziigen die Sie-
delungen heimsuchen. Es kommt noch jetzt húufig
vor, dafb' sich die jungen Ansiedler vereinigen miis-
sen, um gegen die rotháutigen Banditen, mit denen
die Grimder der Klolonie schwere Kiimpfe bestehen
mubten, vorzugehen. Mit der bevorstehenden Fer-
tigstellung der Bahn, die cine rasche Herbeifúhrung
militárischer Hilfe ermóglicht, wird auch dies Ráu-
berunwesen sein Ende finden.
Der Staat Rio Grande do Sul, der siidlichste
von Brasilien, ist ebenfalls von Deutschen dicht be-
- siedelt. Sie bewohnen einen Landstreifen, der in
westóstlicher Richtung quer durch den Staat zieht,
und der an Grófe dem Kónigreich Sachsen unge-
fábr gleichkommt. Hier findet sich auch: die áltesta
brasilianische deutsche Kolonie, Sáo Leopoldo, die
1825 von 126 ¡deutschen Kolonisten gegriindet wurde.
Die Kolonie. záhlt heute etwa 35000 Einwohner und!
erfreut sich dank der auberordentlichen Fruchtbar-
keit ihres Bodens groben Wohlstandes. Der Haupt-
103
ort, ebenfalls Sao ¡Leopoldo genannt, ist eine an-
sehnliche Stadt von (9000 Einwohnern, der man mit
Ihren breiten Strafen, behaglichen Hiáusern und
Plátzen ansieht, daf hier eine begiiterte Bevólkerung
wohnt. In Sao Leopoldo befindet sich ein berihm-
tes Jesuitenkolleg, das den Ruf einer der besten
Unterrichtsanstalten in ganz Brasilien genieft. Das
Institut mit seinen riesigen Bauten ist eine Schópfung
deutscher Jesuiten, die, als sie in den siebziger Jahren
auf Grund des Jesuiten-Gesetzes Deutschland ver-
lassen muÑten, sich in grofer Zahl nach dem Siiden:
Brasiliens wandten. Sie kamen dabei in ein Land,
das seit iiber zwei Jahrhunderten ein reiches Tátig-
keitsfeld ihres Ordens bildete. Die hohe Kultur
dieses brasilianischen Staates ist im wesentlichen das
Verdienst der Jesuiten. In allen Stádten unterhalten
sie vorziigliche Schulen und Bibliotheken, und sie
besorgen ausschlieblich den Schulunterricht und die
katholische Seelsorge auf dem Lande. Von der
Viertelmillion deutschsprechender Bewohner von Rio
Grande sind ungefáhr die Hálfte Katholiken. Unter
ihnen wirken auf iden insgesamt 29 Pfarreien allein
35 deutsche Jesuiten. Sac Leopoldo hat schon friih-
zeitig, mámlich im Jahre 1874, Bahnverbindung er*
halten. Diese Bahn fihrt von der Hauptstadt des
Landes Porto Alegre nach der argentinischen Grenze.
An ibrer Strecke liegen noch mehrere deutsche Kolo-
nien und zwar meist solche, deren Griindung in die
erste Hilfte des neunzehnten Jahrhunderts fállt, so
die vorwiegend von Norddeutschen besiedelte Kolonie
Neu-Hamburg, Taguara ¡md Hamburger Berg. In
104
letzterer gedeiht ein vortrefflicher Wein. Die grófta
dieser alten Siedelungen ist die im Gebiet des Riol
Pardo gelegene, 1849 entstandene Kolonie Santa
Cruz, die ungefáhr 26000 deutsche Einwohner záhlt,
die meist aus dem Rheinland und Pommern stammen.
Im Norden des Staates liegt die: Kolonie Neu-
Wiirttemberg, die von ¡dem Kolonisations-Unternehmen
von Dr. Meyer, Leipzig, ins Leben gerufen ist. Dies
Unternehmen hat 1906 die Konzession seitens der
Regierung erhalten. Seine Bedingungen lauten in
den wesentlichsten Punkten wie die der Hanseati-
schen Kolonialisationsgesellschaft. Nur hat hier der
Kolonist die Reisekosten bis zur Kolonie selbst zu
tragen; in dem ersten Monat erhált er aber ebenfalls
wie bei der Hansa freie Unterkunft in einem Ein-
wandererhaus. Auch mub im Gegensatz zur , Hansa”
eine Anzahlung von mindestens zehn Prozent des
Kiáufpreises geleistet werden. Der Rest ist mit sechs
Prozent zu verzinsen und innerhalb sechs Jahren vól-
lig zu entrichten. Die einzelnen Landlose umfassen,
je 25 Hektar. Die Kosten der Lose schwanken nach
der Qualitát des Bodens zwischen 800 und 1200 Mk.
Die ganze Kolonie hat einen Umfang von 120 Qua-
dratkilometern und setzt sich aus Wald-, Feld- und
Wiesengebiet zusammen. Der Boden ist fruchtbar
und reichlich bewássert. Das Klima eignet sich fir
Deutsche ausgezeichnet. Tropenkrankheiten kommen
nicht vor. Angebaut wird vor allem Bohnen, Mais,
Reis und Kartoffeln, sowie Korn. Der Mais wird
vornehmlich zur Schweinezucht benutzt. Speck und
Schmalz stellen eine wichtige Absatzware dar. Die
105
Kolonie záhlt etwa 1100 Einwohner. Sie steht unter
Leitung leines Direktors, hat einen evangelischen Geist-
lichen, einen deutschen Arzt und eine mehrklassige
Schule. Die Aussichten in dieser jungen, deutschen
Ansiedelung sind sehr giinstig. Da sie in stetem
Wachsen begriffen ist, finden auch Klaufleute und
Handwerker dort eme gute Gelegenheit, sich eine
gesicherte Zukunft zu schaffen.
Von den drei alten deutschen Klolonien im Staate
Rio de Janeiro, die aus der ersten Kaiserzeit stam-
men und zu deren Entstehung der Herrscher un-
mittelbar die Veranlassung gegeben hat, Petropolis,
Neu-Freiburg und Thereropolis besitzen heute nur
noch geringe Spuren ihres urspringlichen Charakters
als koloniale Siedelungen. Die Náhe der Haupt-
stadt, ihr treffliches Kilima und die herrliche Lage
haben sie zu besuchten Sommerfrischen umgestaltet.
Petropolis vor allem hat sich aus einer bescheidenen
Griindung deutscher Bauern zu dem elegantesten Luft-
kurorte Brasiliens entwickelt, in dem die Regierung,
das diplomatische Corps und die vornehme Welt
ihren Sommersitz haben.
Von den iibrigen Staaten haben nur rioch Parana,
Sao Paulo und Minas deutsche Ansiedelungen. Ko-
lonien bestehen aber nicht. Der deutsche Bauer hat
sich hier vereinzelt sefhaft gemacht.
Die Sitze des Deutschtums im Brasilien sind
demnach die Staaten Santa Catharina und Rio Grande
do Sul. Dorthin wird sich auch in erster Linie der
106
deutsche Landwirt wenden. Hier findet er gleichl
einen starken Rúckhalt in seinen Landsleuten, hier
spricht man seine Sprache, und hier lebt man nach
seinen Sitten. Das Leben in állen Kolonien dort
unterscheidet sich kaum von dem, das der Auswan-
derer, der vom platten Lande oder aus der Kleinstadt
kommt, in der Heimat verlassen hat. In den Stádt-
chen, die, die Mittelpunkte der einzelnen Munici-
pien bilden, bestehen deutsche Vereine, deutsche Gast-
háuser, die sich worteilhaft von den brasilianischen
unterscheiden, es erscheinen deutsche Zeitungen und
deutsche Schulen, deutsche Kirchen und deutsche
Arzte finden sich auch'iiberall im besiedelten Gebiet
der Kolonie.
Uber das Deutschtum in den Stádten Brasiliens
ist nicht viel Besonderes zu sagen. Es unterscheidet
sich kaum von dem Leben, das die Auslandsdeut-
schen in den Stádten Nordamerikas, Siidafrikas und
Australiens fihhren. Eine 'Ausnahme bilden die Stádte
des Siidens, wie Florianopolis in Santa Catharinal
und Porto Alegre, Rio Grande und Pelotas in Rio
Grande do Sul, in denen der grófte Teil des Han-
dels und der Industrie in deutschen Hánden liegt.
In ihnen haben sich die Deutschen infolge ihrer
grofen Anzahl enger zusammengeschlossen, als: sie
dies sonst in den Stádten des ¡Auslandes zu tun
pflegen. Die Deutschen in Rio de Janeiro, Sao
Paulo, Pernambuco, Bahia und Santos sind meistens
Kaufleute, die den Handel von und nach Deutsch-
land teils auf cigene Rechnung, teils als Angestellte
deutscher Háuser treiben. Ihre Zahl ist immerhin
107
/
so bedeutend, daf sich auch in ¡diesen Stádten deutsche
Vereine, Schulen und Zeitungen finden. Die Ge-
samtzahl der in ¡Brasilien befindlichen deutschen
Schulen beláuft sich gegenwártig auf 656. Deutsche
Zeitungen erscheinen dreibig, davon fiinfundzwanzig
allein in Sidbrasilien. Die fir den Deutschen in
Brasilien sehr wichtige «,Brasilianische Bank fiir
Deutschland”, die ihren Sitz in Hamburg hat, unter-
hált Filialen in Rio de Janeiro, Sao Paulo, Santos,
Bahia und Porto Alegre. Das Bankwesen ist ñib-
rigens, abgesehen von den grofen Stádten, noch wenig
entwickelt, Deutsche Konsulate, an die sich der
Einwanderer in allen Zweifelsfillen wenden soll,
bestehen in Rio de Janeiro (Generalkonsulat), Bahia,
Pernambuco, Sao Paulo, Santos, Curitiba (Parana),
Florianopolis, Porto Alegre und Rio Grande do Sul.
' 400000 Deutsche sind es ungefáhr, die Bra-
silien beherbergt. Diese Zahl erscheint klein, bedenkt
man, dabf es sich um ein Reich handelt, dessen nórd-
lichste Stadt von der siidlichsten so weit entfernt
liegt wie Berlin von Kiamerun. Man mub deshalb
die Leistung der dortigen Deutschen doppelt be-
wundern, die es verstanden haben, auf allen Gebieten,
wie Landwirtschaft, Handel, Industrie und Schul-
wesen unter Wahrung ihrer deutschen Eigenart vor-
bildlich zu wirken. Dies werden auch die einsich-
tigen unter den Brasilianern, trotz der Gehissigkeit,
die der Krieg gegen das Deutsche geschaffen und
die auch den brasiliamischen Deutschen viele An-
feindungen in ihrer neuen Heimat gebracht hat, in
aller Kiirze wieder anerkennen. Denn bei verniinf-
108
tiger Erwágung miissen sie den deutschen Mitbe-
wohnern ihres Landes gegeniiber zu demselben Ur-
tell gelangen wie der frihere amerikanische Prásident
Theodor Roosevelt, der 1913 gelegentlich einer Stu-
dienreise durch Brasilien ¡seine Beobachtungen iiber
das dortige Deutschtum in den Worten zusammen-
fafte: ,Uberall, wo ich mich auf meiner Reise
aufhielt, fand ich den deutschen Fleif, die deutsche
Ausdauer, das griindliche deutsche Klónnen, die das
meiste beigetragen haben, um dieses Land zu heben,
das den Deutschen Vieles und Grofes verdankt.”
Argentinien.
Argentinien, das ,,Silberland”, bildet mit Chile
die dreieckfórmige Spitze, in die Súdamerika aus-
láuft. An diesen Staat grenzt es im Siiden und We-
sten, an Bolivia im Norden, an Paraguay, Uruguay,
Brasilien und den Atlantischen Ozean im Osten.
Es gehórt zu den ,,La Plata“-Staaten, da ein grober
Teil seines Gebietes von diesem máchtigen Fluba
gebiet berihrt wird. Argentinien ist ganz vorwiegend
Flach- und Hiigelland. Sein einziges Gebirge, die
Sierra de Córdoba, erreicht die Hóhe von 2550 Me-
tern. Seiner Bodenbeschaffenheit und seinem Klima
nach zerfállt es in drei Teile. Der Norden, der
stellenweise mit Wald bedeckt, zum Teil Wiiste ist,
gehórt der Tropenzone an. Die Malaria tritt hier
oft in grofer Stárke auf. Der mittlere Teil weist
wirtschaftlich und klimatisch die besten Bedingungen
auf. Die grofe Sommerhitze wird durch háufige
Regenfálle ertráglich. Tropenkrankheiten finden sich
nicht mehr. Infolge der vortrefflichen Bewisserung,
die dieser Teil Argentiniens durch die Stróme Uru-
guay und Paraguay mit ¡hren zahlreichen Nebenfliissen
110
erhált, gehórt zu dem trefflichsten Acker- und Weide-
land der Erde. Die gewaltige, 1450000 qkm um-
fassende Tiefebene des Stromgebietes wird zum grób-
ten Teil von der Pampa und dem Gran Chaco aus-
gefúllt.
Die Pampa, das heift ,offenes Land”, reicht
vom Rio Salado, 'dem ,,salzigen Flub”, bis zu den
Anden. Sie ist eine michtige, gánzlich waldlose
Ebene. Ihr leichter, tonhaltiger Boden ist durch die
starken Passatwinde zu kleinen Hiigeln aufgeworfen
worden, so daf sie den Anblick eines unendlichen,
-_Meeres bietet, das in schwacher Wellenbewegung
- plótzlich erstarrt ist. Stark salzhaltige, kleine Flisse
durchziehen sie in reichen Windungen, um plótzlich
in ihren Boden zu verschwinden. Ihren Norden be-
deckt cine riesige Fláche kniehohen Grases von fahl-
griner Farbe. Von Natur aus schon zu einem Weide-
platz von seltener Qualitát geschaffen, hat man nichts
ungeschehen lassen, um die natiirlichen Bedingungen
zu einer im groBartigsten Mafstab betriebenen Vich-
zucht auszunitzen. Man hat die Pampa durch unab-
sehbare Drahtzáune, die schnurgerade verlaufen, in
riesige Vierecke zerlegt, die als Weideplátze dienen.
Lángs dieser Záune, deren Zahl ungefáhr anderthalb
Millionen betrágt, hat man fiir das weidende Vieh
Wege, Wasserrinnen und schmale Gehólzstreifen an-
gelegt. Ein besonderes Merkmal der Pampa bilden
die tausende von Windmotoren, die fiir die Wasser-
gewinnung tátig sind, und deren surrendes Geráusch
die Luft erfiillt. Erst seit zwei Jahrzehnten betreibt
man die Viehzucht in so grofartigem Mabstabe.
Sie erweist sich als eine groe Reichtumsquelle fiin
111
Argentinien. Die letzte im Jahre 1911 stattgefundene
Viehzáhlung hat uns staunenswerte Ziffern gezeigt.
Den Bestand an Schafen und Ziegen hat man auf
70 Millionen, an Rindvieh auf 35 Millionen geschátzt..
Was das bedeutet, kann man ermessen, wenn man
erwágt, daf sich in Deutschland mit seiner alten,
hochentwickelten Viehzucht die Ziffern auf 8 bezw.
20 Millionen belaufen. Auch die Pferdezucht wird
in der Pampa eifrig gepflegt. Die Figur des Hirten,
des Gancho, eines Mischlings von Kreolem und. In-
dianer, mit seiner charakteristischen Tracht, dem
ármellosen Mantel, dem' Poncho, ist eine der Pampa
eigene Figur. Der Siden der weiten Ebene ist
reicher bewássert. In ¿hm wird Weizen angebaut,
der trefflich gedeiht.
Das ,grofe Jagdfeld” Gran Chaco im Flubge-
biet des Paraguay ist ebenfalls eine Grasebene, wei-
ter als das Deutsche Reich. Weife finden sich in
ihr kaum «vor. Die einzige, dafiir aber sehr ertrág-
liche Ausbeute, ergibt der rote Quebrachobaum, aus
dessen Holz ein ausgezeichnetes Gerbemittel zube-
reltet wird.
Der Siidden Brasiliens, der bis zum Feuerland
reicht, ist ein fruchtbares, steiniges Hochland, auf dem
nur spárliche Viehzucht móglich ist. Deshalb und
auch wegen des rauhen Klimas ist dieser Teil des
Landes nur sehr schwach bevólkert.
Argentinien záhlt auf einem Gebiete von fast
drei Millionen Quadratkilometern ungefáhr acht Mil-
lionen Einwohner. Seine Besiedelung (2,5 Men-
schen ¡auf 1 Quadratkilometer) ist mithin sehr schwach.
Bei dem enormen Aufschwung, den das Wirtschafts-
112
leben in den letzten Jahrzehnten genommen hat, ist
fiir Zuzug von Einwanderern noch hinreichend Platz
und Fortkommensmóglichkeit vorhanden. Die Be
vólkerung wird úiberwiegend von Kreolen, den Nach-
kommen spanischer Eroberer, gebildet, auferdem fin-
den sich noch vor allem Italiener in gróferer Zahl
vor. Von den alten Bewoknern des Landes, den
Indianern, leben noch etwa 30000 in Argentinien.
Das Land, urspriinglich spanische Kolonie, ist
heute freie Republik. Es gliedert sich in vierzehn
Provinzen, zehn Territorien und ein Bundesgebiet.
An der Spitze steht ein Prisident, der wie sein Stell-
vertreter, der Vizeprásident, auf sechs Jahre gewáhlt
wird und nicht wieder gewáhlt werden kann. Die Volks-
vertretung findet nach dem Zwelkammersystem statt.
Die erste Kiammer, der Senat, záhlt dreifig, je auf
neun Jahre gewáhlte Mitglieder. Sie miissen wie der
Prásident und der Vizeprásident dreifig Jahre alt
sein. Ihre Wahl ist eine indirekte. Die zweite,
die Abgeordnetenkammer, wird durch 120 auf vier
Jahre direkt gewáhlte Abgeordnete mit dem Mindest-
alter von 25 Jahren gebildet. Dem Prásidenten un-
- terstehen 8 Ministersekretáre. Das Gerichtswesen
befindet sich in gutem Zustand. Es ist wie in Brasi-
lien nach franzósischem ¡Vorbild eingerichtet. Die
einzelnen Provinzen haben ihre vóllige selbststándige
Verwaltung. Das nach der allgemeinen Dienstpflicht
geordnete Heer hat eine Friedensstárke von 21 100,
eine Kriegsstárke von 260 000 Mann. Dazu'kommen
noch 68000 Mann Nationalgarde. Die Flotte um-
fat 40 Fahrzeuge mit insgesamt 9000 Mann Be-
“satzung. Die Landessprache ist spanisch, die Na-
tionalflage blau-weif. Dem Miinzsystem liegt die
Goldwáhrung zu Grunde, doch gelangt im Verkehr
hauptsáchlich Papiergeld zur Anwendung. Der Peso
nacional (Gold), der in 100 Centaros zerfállt, gilt
gleich 4,05 Mark deutschen Geldes nach der Va-
luta 1914, der Papier-Peso gleich 0,44 Mark, der
Gold-Peso gleich 1,76 Mark. Ma und Gewicht'
sind dieselben wie bei uns. Das Eisenbahnwesen
ist in sehr gutem Zustand. Obwohl Argentinien fast
nur ein Viertel des Umfanges von Brasilien hat,
weist es die doppelte Zahl Bahnkilometer auf. Auch
Post und Telegraphie geben zu keinen Klagen Anlaf.
Argentinien besitzt auch die grófte Handelsflotte
der siidamerikanischen' Staaten. Sie umfaft nahezu
300000 Tonnen. :
Der Reichtum des Landes beruht, wie schon er-
wiáhnt, in erster Linie auf Ackerbau und Viehzucht.
Argentinien nimmt unter den getreideausfiihrenden;
Liándern. eine hervorragende Stelle ein. Angebaut
wird insbesondere Weizen. Infolge des sprunghaften
Aufschwunges sind aber vor allem in den am gún-
stigsten gelegenen Provinzen Buenos-Aires, Santa Fé
und Entre Rios die Preise des Bodens derart ge-
stiegen, dal der Ankauf fiir Auswanderer kaum in
Frage kommen diirfte. Besser liegen die Verháltnisse
in der Provinz Cordoba und in Pampa Central, wo
sich ebenfalls fiir den Anbau von Weizen, Mais,
Lainsaat und anderer Kornfrucht vorziiglich gecigneter
Boden vorfindet. Die Bearbeitung von Neuland hat
hier iiberall gegeniber der in Brasilien den grofen
Vorzug, dabh der Klolonist infolge des Fehlens voni
Wáldern sofort mit der Bearbeitung des Bodens be-
114
ginnen kann. Die Zeit der Aussaat fállt in den Mai
und Juni, die der Ernte zwischen November und
Januar. ] ]
Waáhrend die Landwirtschaft meist im Klein-
betrieb ausgeiúibt wird, herrscht in der Viehzucht der
Grof3betrieb vor. Zu ihr, die mit den modernsten Mit-
teln in rationellster Weise gehandhabt wird, benó-
tigt man erhebliche Kapitalien. Vielfach haben aber
die Grobgrundbesitzer, wie es auch bei Ackerland
sehr háufig vorkommt, Weidefláchen in Pacht gegeben.
Staatsland wird nicht mehr abgegeben. Die Mehr-
zahl der GroBgrundbesitzer gibt aber, schon um dem
Mangel an Arbeitskráften zu steuern, Land an Kolo-
nisten káuflich oder pachtweise ab. Es bestehen
zudem eine Reihe von Kolonisations-Unternehmungen,
von denen fir den deutschen Auswanderer in erster
Linie folgende in Betrach kommen.
1.) Die Kiolonisation Schroeder
2.) Die Germanisch-Argentinisch Kolonisat'ons-
gesellschaft.
3.) Die Gesellschaft ,,Estancia y Colonias Cura-
,
malán”.
Diese Gesellschaften geben ihre Landlose gegen
eine Anzahl von 25—35 Prozent des Klaufpreises
ab. Der Rest ist dann in drei oder vier Jahres-
raten zu erledigen. Zwischenzeitlich werden acht bis
zehn Prozent Zinsen berechnet. Bei den recht zahl- *
reichen Mibernten, die durch háufige Witterungsum-
schláge und infolge der grofen Heuschreckenplage
vorkommen, bringt die Abzahlung leicht cine Gefahr
fiir den Kolonisten. -Die Bodenpreise unterliegen
groben Schwankungen. Erstklassiges Ackerland in
115
g*
der Provinz Buenos-Aires wird mit bis zu 1200 Mark
pro Hektar, Gartenland gar bis zu 2500 Mark be-
zahlt. In den entfernter liegenden Provinzen kostet
Weizenboden zwischen 100 und 300 Mark, Acker-
land 200 bis 600 Mark und Weide 10 bis 70 Mark
pro Hektar. Die Pacht betrágt fiir Gartenland 70
bis 280 Mark, je nach Lage, fiir Maisland 60 Mark,
fir einfaches Weide- und Ackerland 2 bis 10 Mark
pro Hektar fir das J ahr. Recht gut bezahlt, námlich
mit einem Monatsgehalt bis zu 800 Mark bei freier,
Station sind die Stellen als Verwalter auf den groen
Giitern. Neben grindlichster landwirtschaftlicher Er-
fahrung ist aber auch Bedingung genaueste Kenntnis.
der argentinischen Verháltnisse. Wáhrend der Ernte-
zeit sind Landarbeiter sehr gesucht. Sie erhalten
5—10 Mark táglich bei freier Station.
Das Leben in den Stádten Argentiniens ist sehr
teuer. Dies gilt vor allem von! der Landeshauptstadt
Buenos-Aires. Fúr die Kosten der Lebensfihrung
mul) man ungefáhr in normalen Zeiten so viel anlegen
wie bei uns in den Grofstádten in den letzten Kriegs-
jahren. In dieser glánzenden Stadt, die mit ihren
anderthalb Millionen Einwohnern die gróbte Siid-
amerikas darstellt, sind alle Nationen vertreten. Man
nennt sie daher mit Recht die buntsprachigste der
Erde. Die Deutschen, die vor allem als Kaufleute
tátig sind, haben sich verháltnismáfig eng aneinander
angeschlossen. Sie haben im deutschen Club eine
behagliche Státte der Geselligkeit, eme schóne deutsche
-Schule und eine húbsche evangelische Kirche. Sia
wohnen zumeist in der Vorstadt Belgrano, in der das
Leben weniger kostspielig ist. In Buenos-Aires betritt
116
der Auswanderer aus Deutschland die neue Heimat,
da hier der Landeplatz aller deutschen Linien fir
- Argentinien liegt. In iden úibrigen Grofstádten. Rosa-
- rio am Paraná, La Plata und Cordoba wohnen nur
wenige Deutsche. Bemerkenswert ist, daf in der
letztgenannten Stadt, die einen rein spanischen Cha-
rakter trágt, eine Universitat besteht, die als zweit-
- álteste Stidamerikas berihmt ist. Sie wurde von
deutschen Jesuiten gegriindet, und ihre Lehrer waren
bis vor kurzem ausschliefflich Deutsche.
Die Zahl der in Argentinien ansássigen Deut-
schen beláuft sich insgesamt auf ungefáhr 25000.
Schon an dieser niedrigen Ziffer kann 'man erschen,
dal es auf dem Lande keine deutschen Kolonien
von dem Umfang und der Bedeutung wie in Brasi-
—lien gibt. Wohl finden sich vor allem in iden Pro-
“vinzen Santa Fé und Entre Rios zusammenhángende
deutsche Ansiedelungen vor. Ein Leben in der Form
gróferer Gemeinden, wie es in Brasilien durchschnitt-
lich die Regel bildet, hat sich bisher noch nicht ent-
wickelt,
Der Aufschwung 'Argentiniens láft sich mur mit
- dem leinzelner besonders bevorzugter Staaten der
Union vergleichen. Im selben raschen Tempo, in
dem sich die Landwirtschaft und Viehzucht in der
letzten Zeit entwickelte, hat sich auch eine mit ihr
im (Zusammenhang stehende glánzende Industrie heraus-
gebildet. Vor etwa dreifiig Jahren kam ein findiger
- Argentinier auf den Gedanken, Fleisch durch Ge-
Árieren zur Ausfuhr úber See geeinget zu machen,
Heute ist Argentinien der erste Fleischlieferant der
Welt geworden, in dessen gewaltigen Schlachtháu-
117
sern, Gefrieranstalten und Fleischkonservenfabriken
jáhrlich etwa zweieinhalb Millionen Rinder und fiinf
bis sechs Millionen Schafe geschlachtet, und vor allem
nach Nordamerika und -England exportiert werden.
Ein anderer wertvoller Artikel, den Argentinien sei-
ner Viehzucht verdankt, ist die kondensierte Milch,
deren Herstellung in sechzig grofen Fabriken er-
folgt. Das dritte der hauptsáchlichsten Industrie-
produkte ist der Zucker, der vor allem in der Pro-
vinz Tucumán gewonnen und dort auch gleich teil-
weise zu Alkohlol und Branntwein verarbeitet wird.
Es láft sich denken, daf eine Industrie, die sich
mit einer fast beispiellosen Schnelligkeit entwickelt,
Platz fiir viele Arbeiter aller Art bietet. Die Aus-
sichten sind daher fiir Ingenieure, Techniker und
Facharbeiter ginstig. Es werden meist gute Lóhne
gezahlt. Nur hat sich bisher die italienische Kion-
kurrenz auf dem Arbeitsmarkt sehr fihlbar gemacht.
Am 'wenigsten gúnstig liegen die Aussichten in Buenos=
Aires, da zu dieser Weltstadt mit ihrer auñergewóhn-
lichen Fiille von Vergniigungen ein starker Andrang
war. E
Ein Kaufmann, der iiber etwas Kapital verfiigt,
darf unter der Voraussetzung, daf er sich eine ge-
- naue Kenntnis der argentinischen Handelsverháltnisse
erworben hat, auf eine gute Zukunft hoffen. Kiauf»
mánnische Angestellte sind in geniigender Zahl vor-
handen, und es ist daher fiir solche unsicher, obine
festes Engagement in der Tasche die Reise iiber die
See zu wagen, Dies gilt iibrigens auch fir Haus-
lehrer und -Lehrerinnen, nach denen aber zeitweise
rege Nachfrage herrscht, da das deutsche Unterrichts-
118
wesen sich in Argentinien eines sehr guten Rufes
erfreut. Von den freien Berufen haben Arzte und
Apotheker keine schlechten Aussichten. Beide miis-
sen aber nochmals ein Examen in spanischer Sprache
ablegen.
Die fimfzehn deutsch-evangelischen [Gemeinden
sind der preubischen Landeskirche angeschlossen.
Sie bilden mit der Gemeinde in Uruguay die soge-
nannte La Plata Synode.
Das deutsche Kionsulat hat seinen Sitz in Buenos-
Aires. Ihm unterstehen die in sámtlichen gróberen,
Stádten befindlichen Vizekonsulate.
A AS A
Chile.
Chile, der siidwestlichste Kiistenstaat Siidamerl-
_kas hat eine eigenartige, langgestaltete Form. Bei
einer Lánge von 4800 Kilometern betrágt seine
Durchschnittsbreite nur etwa 200 Kilometer. Die
-— Nestgrenze bildet der stille Ozean, die Ostgrenze
das Hochgebirge der Cordilleren. Das Klima ist
infolge der Náhe des Meeres, diel selbst in der tro-
pischen Zone die Hitze mildert, gut. Tropenkrank-
- heiten sind selten. Unter den, vielen Inseln, die zu
Chile gehóren, und die meist ganz dicht 'an der Fest-
landskiiste liegen, ragt an Bedeutung die Inselmasse
“von Chiloe hervor, «die durch 3000 Inseln gebildet
wird, deren gróbere infolge der zahlreichen Regen-
falle sehr ginstigen Ackerboden aufwelsen.
Chile, das einen Umfang von etwa 750000 Qua-
dratkilometern hat, záhlt ungefáhr dreicinhalb Mil-
lionen Einwohner. Sie sind zum gróSten Teil Misch-
linge oder Spanier. Spanisch ist auch die Landes-
—sprache. Die Staatsform ist diejenige der Republik.
¡An der Spitze steht ein auf finf Jahre gewáhlter
121
Prásident, unter dem sechs Minister fungieren. Die
Gesetzgebung wird durch zwei Kammern, den Senat
und die Abgeordnetenkammer, ausgeibt. Die Sicher-
heit láft námentlich im Osten noch recht zu wiim-
schen ibrig. Uberfálle durch Indianer- oder Misch-
lingsbanden gehóren micht zu den Seltenheiten. Das
Heerwesen beruht auf der allgemeinen Dienstpflicht.
Post und Telegraphie sind ordentlich. Von den
Eisenbahnen ist die bedeutendste die ,Longitudinal-
bahn”, die sich fast an der ganzen Kiiste entlang
zieht. Der Verkehr:wird sonst im wesentlichen durch
die Kiistenschiffahrt aufrecht erhalten, bei der der
deutschen ,,Kosmos"-Linie ein bedeutender Anteil zu-
fállt. Das Minzwesen fubft zwar auf der Gold-
wáhrung, tatsáchlich ist aber nur Silber- und Papier-
geld in Umlauf. Die Mimnzeinheit bildet der Peson-
nevo, der in 100 Centaros zerfállt Sein Wert be-
trug 1,53 Mark ¡(Kurs 1914). Die Einwanderung
wurde seitens der Regierung insofern begiinstigt, als
Handwerkern und Kolonisten freie Uberfahrt dritter
Klasse und nach ihrer Ankunft auf chileanischem
Boden freie Bahnfahrt, Unterkunft und Verpflegung
bis zum Eintreffen am Niederlassungsort gewibrt -
_wurde.
Den Bodenverháltnissen nach gliedert sich Chile
von Norden nach Siiden in Bergwerks-, Ackerbau-
und Waldland. Von Natur ist es reich gesegnet.
Nicht nur, daf es infolge seiner iippigen Pflanzen-
welt ,,der Garten der Neuen Welt" heift, die Fille
seiner Bodenschátze haben es auch als das reichste
Land Sidamerikas erscheinen lassen. Neben Silber,
Gold, Schwefel und Kohlen kommen vor allem
DA
Kupfer und Salpeter vor. In Salpeter nahm es sogar
eine Art Monopolstellung ein. ¡Seim Salpetervorrat
geht jedoch allmáhlich zur Neige. Wábhrend des
Krieges hat Chile an diesem zur Kriegfiihrung so
wichtigen Mineral gewaltige Verdienste erzielt. Man
hat aber Raubbau getrieben und in der Erwartung
auf lingere Dauer des Krieges grofe Vorráte an-
geháuft, die jetzt, ohne Absatz zu finden, lagern.
Chile befindet sich deshalb gegenwártig durch seine
in den letzten Jahren ganz einseitig getriebene Sal-
- peterproduktion vor einer gefáhrlichen Wirtschafts-
krise.
' Landwirtschaft wird vorwiegend in dem mitt-
leren Teil des Staates getrieben. In den bereits kul.
tivierten Gegenden finden sich etwa 20000 deutsche
Ansiedler vor, meist Wiirttemberger und Hessen,
die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einge-
wandert sind. Ihre ¡Ansiedelungen wie Puerto Octai,
Puerto Varas und Puerto Montt erfreuen' sich eines
hohen Wohlstandes. Es gedeiht Mais, Weizen, Boh-
nen, Zuckerrohr, Tabak und Kartoffeln in gleich
trefflicher Weise. Das Land befindet sich aber
meist in festen Hánden. Fiir neuankommende 'An-
siedler stellt sich der Preis viel zu hoch. In den
diinner besiedelten, namentlich siidlicheren Gegenden,
wartet noch viel Boden auf den Bebauer. Das Land,
teils Staatsbesitz, teils Eigentum von Kolonialgesell-
schaften, ist vorwiegend Urwald. Man iiberláBt der
Kolonisten-Familie meist einen Waldabschnitt im
Umfang von 60 bis 70 Hektar kostenlos mit der
—Verpflichtung, ihin in einer bestimmten Zeit urbar zu
machen und auf ¡hm ein Gebáude zu errichten.
123
Kommt der Kolonist dieser Verpflichtung nach, so
erhált er das gerodete Land als freies Elgentum. Die
Gite dieser Bedingungen erleidet praktisch eine starke
Einbuñe dadurch, daf dem Ansiedler die Koloni-
sation durch die ¿feindliche Haltung der eingeses-
senen Bevólkerung und durch die unsicheren politi-
schen Verháltnisse sehr erschwert wird.
In den Stádten, von denen nur zwel, Santiago
und Valparaiso, Grobstádte “sind, leben zahlreiche
Deutsche als Kaufleute. Beide sind auch die Indu-
striezentren, in deren zahlreichen Fabriken ein grofer
Teil der Bodenprodukte seine Verarbeitung findet.
Deutsche Kirchen und Schulen sind nur in: geringer
Zahl vorhanden. Von deutschen Banken unterhalten
die Diskontogesellschaft und die deutsche Bank einige.
Filialen. Kionsulate befinden sich in Santiago, Val-
paraiso und Valdivia.
- Paraguay und Uruguay.
Die Republiken Paraguay und Uruguay sind
neben Argentinien die beiden kleineren La Plata-
staaten. Wáhrend Uruguay im Osten vom Atlanti-
schen Ozean bespiilt wird, ist Paraguay ein reiner
Binnenstaat. Das Klima weist eine Durchschnitts-
temperatur von 18 Grad auf und ist zwar feucht,
und, ausgenommen fiir Lungenschwache, gesund. Der
- Boden ist zum Teil mit Wald bedeckt, in dem der
- Quebrachobaum und der Paraguaybaum gedeiht, von
dem der Paraguaytee oder Hewa-Maté 'gewonnen wird,
oder fruchtbares, schwarzerdiges ¡Ackerland. In Uru-
- guay finden sich auch grobe Weidefláchen vor, die
wie in Argentinien zu einer in grobartigem Umfang
— betriebenen Viehzucht benutzt werden. Man hat auf
ihnen 1913 ungefáhr 22 Millionen Schafe, 9 Mil-
lionen Rindvieh und 1 Million Pferde gezáhlt. Beide
- Staaten stehen der Einwanderung ginstig gegenúber.
Sie unterhalten kostenlose Arbeitsnachweise und ge-
wáhrten freie Uberfahrt sowie fir die ersten Tage
nach der Ankunft freie Unterkunft und Verpflegung.
cave zu Kolonisationszwecken besteht nicht.
me:
Die Zahl der Deutschen ist in beiden Lándern ge-
ring. In Paraguay besteht die 1888 von Dr. Fórster
gegriindete Kiolonie Nueva Germania. Ihre Kolonie-
lose, die 40 Hektar umfassen, kosten 600 bis 800
Mark und missen innerhalb 6 Monaten bezahlt sein.
Ein Hindernis fiir die Ansiedelung bilden hier wie
iiberhaupt in beiden Staaten die schlechten Verkehrs-
verháltnisse. Eisenbahnen, Post und Telegraphie be-
finden sich erst im Anfangsstadium der Entwick-
lung. Dies ist auch der Grund, weshalb die erheb-
lichen Mineralschátze noch kaum ausgebeutet wer-
den. Fiir Kaufleute kommen in erster Linie die
beiden Hauptstádte Montevideo und Asunción in
Frage. Deutsche Kirchen und Schulen finden sich
auber in den Hauptstádten noch in den kleinen deut-
schen Ansiedlerkolonien vor, von denen neben Nueva
Germania moch Nueva Helvecia, San Be:nandino,
Hohenau und Villa; Rica genannt seien. Deutsche
Konsulate bestehen in den Hauptstádten. Die Zu-
kunft beider Lánder hángt im wesentlichen. von der
- Verbesserung der Verkehrsmittel ab. Die beiden
schwach besiedelten Staaten, die 750000 bezw. 1,2
Millionen Einwohner haben, kónnen bei ihren Reich-
tiimern noch vielen Menschen aller Berufskiassen
Unterkunft und Auskommen gewihren.
o
Einige Winke fúr Auswanderer.
Zum Schlub sollen noch einige Ratschláge, die
bereits im Laufe der Darstellung gegeben wurden,
kurz zusammengefaft werden.
Wer die kórperlichen und geistigen Anstrengun-
gen, die eine Auswanderung und das Einleben in
vóllig neue Verháltnisse mit sich bringen, auf sich
nehmen will, muf vor allen Dingen von tadelloser
Gesundheit sein. Darum frage er zuerst einen Arzt..
Der Auswanderer darf auch nicht zu alt sein. Alte
Báume lassen sich nicht verpflanzen. Er mub ent-
schlossen sein, mit allen seinen Kráften zu arbeiten.
-— Nichtstuer braucht man ,auch im ¡der neuen Welt
nicht, und diese ¡ist kein Schlaraffenland, in dem
gebratene Tauben umherfliegen. Das Geld liegt auch
hier nicht auf der Strafe, sondern auch hier ist
der Lohn nur der Ertrag angestrengter Arbeit. Wer
- ohne bestimmte Stellung auswandert, darf nicht da-
vor zuriickschrecken, unter Umstánden voriibergehend
cine andere als die gelernte Tátigkeit auszuiiben, mag
sie ihm vielleicht nach den Begriffen seiner Heimat
auch niedrig erschleinen. Vorurteile kennt man ,,drii-
ben“ nicht, und es schadet niemandem in seiner Zu-
-kunft, wenn er einmal eine Zeitlang Stiefelputzer
oder Flaschenspiller war. Der Auswanderer soll auch
nicht dén Vorsatz haben, unter allen Umstánden im
der Grofistadt bleiben zu wollen. Er findet dort
127
schwerer sein Fortkommen als auf dem Lande und
in den kleinen, meist aufblihenden Stádten. Nie-
mand reise úiber die See, der sich nicht vorher durch
Lektiire und Erkundigung ein genaues Bild der neueñ
Heimat gemacht hat, damit er weif, welche Ver-
háltnisse ¡hn erwarten. 'Niemand ziehe in ein fremdes
Land, dessen Sprache er nicht wenigstens einiger-
maben beherrscht. Er wird sonst nicht nur keine
Anstellung finden, sondern auch kaum unter den
fremden Menschen, mit denen er sich nicht zu 'ver-
stándigen vermag, leben kónnen.
Wer micht leichtsinnig verfáhrt, reist erst, wenn
er eine feste Anstellung in der Tasche hat. Diese
lasse er sich aber auch noch von dem Konsul des
fremden Staates und dem deutschen Konsul visieren.
Auch erkundige er sich vorher genau iiber die Per-
sónlichkeit seines Dienstherm. Vor allem Frauen
kann in diesem Punkte nicht genug Vorsicht ange-".
raten werden. Landleute, «die kolonisieren wollen,
sollten nicht allein auswandern. Wollen sie selb-
stándig bleiben, so miiften sie sich gleich fremde
HilHfskráfte engagieren und damit mit erhóhten Un-
kosten den neuen Betrieb eróffnen. Falls nicht eine
ganze Familie auswandert, so gedulde sich der aus-
wanderungslustige Landwirt, bis er Anschlub. an eine
Auswanderergruppe findet.
Alle Auswanderer, gleichgiltig welchem Berufs-
stand sie angehóren, sollten im Ausland nicht ver-
gessen, Anschluf. an ihre deutschen Landsleute zu de
suchen und gemeinsam .mit ihmen deutsches Wesen
und deutsche Art zu pflegen. Sie schaffen sich damit
selbst den besten Halt und die kráftigste Stitze.
Jos, C. Huber, Diessen vor Múnchen,
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PRESERVATION ACADEMY
Entsáuert
02/2010
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Sollen wir auswandern
Und wohin?
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