Full text: Über seine zweite Schingú-Expedition

  
386 Dr. C. von den Steinen. 
  
ausüben, und es ist sehr wohl denkbar, dafs wir in den rohen Töpfer- 
stämmen des Schingú die Urform jener wahrhaften Künstler des Nordens 
sehen müssen. Eben die Aruak des Schingü sind ferner auch die eigent- 
lichen Künstler von Holzmasken, die bei Tänzen getragen werden 
und neben den Töpfen das höchste Kunsterzeugnis darstellen. 
Die Bakairi haben mir erzählt, und ihre Sagen überliefern diesen 
Umstand auch in legendarischer Einkleidung, dafs sie den Maskentanz 
erst von den Aruak gelernt haben. Ihre ursprüngliche Verkleidung 
zum Tiertanz ist der einfache, über den Kopf gestülpte Strohmantel, 
von dem wir die wichtigsten Formen auch vorzeigen können. Diese 
Mäntel erinnern aber sofort an die der Guyanakariben, welche in 
dem Crévaux’schen Reisewerke dargestellt sind. 
Kurz, Meuistische u und 1d ethnologische Erfahrung scheinen sich ver- 
binden zu wollen, um uns endlich zu besserem Verständnis der ver- 
wickelten Beziehungen zwischen den verschiedenartigen Stämmen zu 
verhelfen. 
Das Vergnügen an künstlerischer Bethätigung ist bei allen unsern 
Indianern lebhaft ausgesprochen. Außer den Masken muls ich der 
großen Sitzschemel gedenken, die sie mit unglaublicher Ausdauer aus 
einem Stamm schnitzen und denen sie die Form von Jaguaren, Affen oder 
Geiern und andern Vögeln geben. Sie haben eine Sucht geradezu 
alle Gebrauchsgegenstände zu bemalen, eine Leidenschaft für das Kunst- 
handwerk. Besonders treten auf ihren Spinnwirteln, Masken, Rudern, 
| Flöten, Trinkkürbissen etc. etc. Muster von Dreiecken und Rauten auf 
Diese sind stereotype Ornamente bei allen Stämmen. Daneben 
finden sich Kreise, Wellenlinien, Zickzacke etc. etc.; in meiner ersten 
À. Reisebeschreibung habe ich deshalb bemerkt, man treffe vielfach solche 
„geometrischen Figuren“. Wie ich jetzt gelernt habe, — ein ge- 
| waltiger Irrtum. Diese Muster haben noch alle gege enständliche 
é „Namen und sind nur allmählich schematisierte Nachbildungen von be- 
, , | ‘stimmten sie interessierenden Objekten. Der Naturmensch concipiert 
| ube \ ' keine „geometrischen Figuren“, keine Dreiecke und Vierecke, wie 
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wir für uns so „natürlich“ finden. Das Dreieck ist die Abbildung 
‘der Palmblättchen, welche die Frauen tragen, die Raute die eines kleinen 
‘Lagunenfisches, Kreise stellen die Flecken von Rochen, die Wellenlinien 
(Schlangen dar, etc. Quadrate und Rechtecke, deren Fehlen uns schon 
| hafgefatisa;' sind ihnen einfach nicht als Objekte in der Natur begegnet. 
Die Abbildung wird Ornament, wird geometrische Figur; die geometrische 
| Figur, die es in der Natur nicht giebt, existiert auch nicht als 
kin gegebener Begriff in der Vorstellung des Wilden; wir aber 
enken, von unserm Standpunkt ausgehend, warum soll er nicht Drei- 
scke oder Vierecke zeichnen, an denen sich bei uns ja auch jedes Kind 
“Schon in den ersten Stunden des Zeichenunterrichts versucht, und 
merken nicht, welche Abstraktion wir voraussetzen. | 
  
  
  
 
	        
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