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Gastfreundschaft 115
Prächtig ist es, ihre Märchen und Mythen mit Ohren und Augen aufzunehmen.
Bei aufregenden Stellen steht der Erzähler zitternd, erbleichend da. Die
Stimme schwankt ihm vor innerer Erregung. Mitten in die Erzählung hinein
stößt er einen Fluch aus gegen die untreue Frau, die den Gatten getötet,
gegen die unnatürliche Mutter, die ihre Kinder mißhandelt hat.
Überall bei diesen Indianern herrscht eine unbegrenzte Gastfreund-
schaft. Sie ist die natürliche Folge ihrer Gewohnheit, die schon die Kinder
auszeichnet, alle Lebensmittel untereinander zu teilen, was sich besonders
in den gemeinsamen Mahlzeiten der nach dem Geschlecht getrennten Be-
wohner einer Siedlung ausspricht. Nicht selten ist diese Gastfreundschaft
anstrengend für den Gast. Sobald wir eine Niederlassung betraten, brachten
uns die Frauen nach den offiziellen Empfangsworten auf Befehl des Altesten
Topfschalen mit Wildbret oder Fisch in Pfefferbrühe und, wenn gerade
Kaschiri da war, unzählige Kalabassen mit diesem edlen Trank. Kaum
hatten wir eine Kalabasse in vollen Zügen gelehrt, so stand auch schon
eine andere Frau vor uns und reichte uns mit freundlichem: „Wo prpi!“,
„Getränk, Bruder!“, eine neue Kalabasse, die wir nicht zurückweisen durften,
um nicht unhöflich zu erscheinen. — Bei unserem Aufenthalt im Dorfe
Kaualiänalemöng am Roroima luden uns die Familien, die in unserer Nähe
wohnten, mindestens einmal am Tag mit lauter Stimme zum Essen ein. —
Einen Gast nicht zu bewirten, gilt als grobe Rücksichtslosigkeit und Be-
leidigung und kommt nur in den seltensten Fällen vor.
Den meisten Indianerstämmen Südamerikas wird nachlässige und lieb-
lose Behandlung der Alten und Kranken vorgeworfen. Ich habe dies weder
bei den Makuschi noch bei den Taulipäng gefunden, und ihr vorwiegend
Sutmütiger Charakter spricht dagegen. Sicherlich gibt es auch unter ihnen,
wie bei uns, brutale Menschen, die einen hilflosen Angehörigen nur als
eine Last betrachten, was bis zu einem gewissen Grade verständlich ist,
wenn man bedenkt, daß dieses Volk seine nomadisierende Lebensweise zum
Teil noch beibehalten hat. Einen rührenden Fall von Gattenliebe, den ich
aber nicht verallgemeinern will, sah ich bei einem Zauberarzte der Arekunä,
der unter den Yekuaná und Guinaú am Merewari lebte. Er behandelte
Seine blinde Frau mit der größten Sorgfalt. Auf dem Marsch oder, wenn
Sie zur Pflanzung ging, schritt er vor ihr her und machte sie auf jeden
Baumstamm, auf jeden Stumpf, auf jeden Stein aufmerksam. Jeden Zweig
bog er vor ihr zur Seite. In den heißen Mittagsstunden machte er ihr aus
einer alten Decke ein Sonnensegel zurecht. Zum Maniokreiben und Backen
der Fladen trug er ihr die Geräte herbei, denn trotz ihrer vollkommenen
Blindheit verrichtete sie alle Geschäfte der Hausfrau.