Besprechung‘ von Dr. E. Vowinckel, Berlin 101
15.
„Jedes bedeutende, Buch hat seine Wahrheiten.
Es gilt, diese zunächst wirklich zu erkennen; dann erst
mag man zusehen, ob etwas von der Wahrheit darin ist.
Soll ich ein Wort über Chamberlain’s Buch sagen, so kann
‚ich nur einige Züge daraus kurz zeichnen, die ‘abseits lie-
gen von der ins Auge fallenden, etwas groben Einfassung,
von ‚Rassentheorien, von kirchen- und staatspolitischen
Massenurteilen, von dogmatischen Gewaltstreichen. Auch
in ‚alledem mag viel Wahres liegen, doch müssen erst
die Tageszeitungen davon schweigen, ehe man es wirklich
würdigen und sichten kann.. Der Verfasser ist nur deswe-
gen gross, weil er wieder einmal einige Striche an dem
‚Bilde der Menschenpersönlichkeit getan hat, wie sie so
keiner ‚vor ihm gezeichnet hat. Es ist nicht so, als ob
Chamberlain eine Lösung der Probleme des Menschen ge-
geben hätte? oder gar eine Erlösung. Er zeichnet das
‚historisch gewordene Bild der Menschenseele, führt es in
.grellen, , leuchtenden, 'kontrastierenden Farben aus, um-
gibt,es mit einem starken Rahmen, als:ob er.es verhindern
wollte, über die ihm gegebenen Grenzen hinauszuwachsen.
Das ‚Seelenblid Chamberlain’s schaut uns mit seinen gros-
‚sen,. fragenden Augen wie ein sehnsuchtsvolles Rätsel an,
‚das gelöst werden möchte und doch bange ist, .es, möchte
„dabei selbst : vergehen. Dass. diese Charakteristik es. den
i ‚Gedanken unseres Autors zugrunde liegenden Seelenbildes
„nicht übertrieben ist, mag die folgende, kurze Darstellung
beweisen. 3 !
».. Um die Seele des modernen : Menschen kämpfen. drei
‚verschieden geartete Mächte: die. Geschichte, die Natur
‚und .das eigene ‚innere freie Bewusstsein. Diese ‚Mächte
. sind. jedoch keine fertig und. klar umrissenen , Grössen,
‚deren jede.nach ihrer Kraft und Leistungsfähigkeit hekannt