Full text: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts und Immanuel Kant

    
    
102 Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts 
  
wäre, für deren eine die Seele sich entscheiden könnte, 
um nun in klaren, friedlichen Verhältnissen zu den beiden 
anderen zu stehen. Auf dem eigenen Grund und Boden der 
Menschenseele besitzt die Geschichte feste Plätze, an deren 
Aufgabe sie nicht denkt, die, wie eben so viele, Verräter 
im eigenen Lager sind. Und das innere freie Bewusstsein 
fühlt bei jeder Lebensäusserung sich an die verborgenen 
und sichtbaren Wurzeln gebunden, mit denen seine Nei- 
gung, sich auszudrücken und auszuwirken, wiederum an 
die Erdnatur gefesselt ist. Erst recht die Natur zeigt sich 
von der Auffassung des Menschen ebenso abhängig, wie 
sie andererseits in gewaltiger Souveränetät über dem 
menschlichen Einzelleben steht. Die stolzen, in ihrer Man- 
nigfaltigkeit unübersehbaren Tätigkeitsweisen des Men- 
schengeschlechts, die wir unter den Namen Staatsleben, 
Wissenschaft, Kunst, Religion zusammenfassen, zeigen 
auf jedem Punkt die verhängnisvolle Verstricktheit der 
Menschenseele — denn diese ist im letzten Grunde doch das 
Subjekt jener Tätigkeitsweisen — in die unendlich kom- 
plizierten, verwebten und: verschlungenen Netze der drei 
Mächte Geschichte, Natur und Innerlichkeit. Das Ringen 
dieser Dämonen schildert Chamberlain unter dem Einfluss 
eines bestimmten Idealbildes von der menschlichen Seele, 
das ihm vor Augen steht, nach dessen erhabenem Urteil er 
Grösse und Kleinheit, Lob und Tadel zuspricht oder ver- 
sagt. Die Herrschaft in der Persönlichkeit, wie sie sein 
soll, führt das freie Ich, welches Ewigkeitsgehalt und 
wunderbare Tiefe in sich trägt. Es führt die Herrschaft 
in solchem Masse, dass die anderen Mächte geradezu von 
ihm Daseinsgestalt und Gedankenform erst erhalten. Die 
Geschichte hat in ihrer brutalen Tatsächlichkeit kein auto- 
ritatives Recht; sie hat Irrtümer auf Irrtümer gehäuft. 
Dann ist ihr Gebot am verderblichsten, wenn sie freie, 
edelgeborene Seelen knechten will mit den Gedanken, Gü- 
tern und Institutionen einer kleingeistigen Vergangenheit. 
Sie ist nur gross dort, wo die genialen Menschen in ihr 
 
	        
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