120 Chamberlain, Immanuel Kant
ten. In diesem Sinne sagt Kant: ‚‚Ich musste also das
Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“,
zum Glauben an die freie, sich selbst Gesetze gebende Tä-
tigkeit des Menschen und an deren Ziele.
Es ist hier nicht der Ort, sich im einzelnen mit Cham-
berlain auseinanderzusetzen, jedenfalls hat. er seine Auf-
gabe, „Kants intellektuelle Persönlichkeit“ lebendig werden
zu lassen, auf seinem Wege glänzend gelöst. Es war ein
äusserst fruchtbarer Gedanke, Kant’s geistige Eigenart
dadurch zu beleuchten, dass er ihn mit anderen, leichter
zugänglichen Grossen verglich und hier Übereinstimmun-
gen und dort Abweichungen feststellte, wobei natürlich
auch auf diese ein neues Licht fällt.
Da Chamberlain’s Werk nicht das Studium Kant'’s er-
setzen, sondern auf dieses vorbereiten will, so hat er auch
eine gewisse Freiheit in bezug auf die Auffassung Kant's,
welche den Darstellern des Kantischen Systems nicht ein-
geräumt werden darf, und diese Freiheit sollte ihm keine
Kritik verkümmern.
Den tiefen und klaren Gedanken dient eine edle und
schöne Sprache, welche zum Bilde greift, wo es erforder-
lich scheint (vgl. z. B. den König im Turme, den:zurück-
schauenden Alpenwanderer usw.).
Zur Veranschaulichung des einzelnen und seiner Zu-
sammenhänge werden überdies gelegentlich graphische
Darstellungen und Schemata dieser oder jener Art mit
Glück verwendet, aber auch in bezug auf ihre lediglich
vorbereitende Bedeutung kritisch gewürdigt.
Mag das hochbedeutende und würdig ausgestattete
Werk recht viele Leser finden, welche sich ihm zunächst
fraglos hingeben und sich dabei freuen, wie alles sich zum
ganzen fügt, und dannerstsorgsam alles einzelne prüfen, eins
aberunverlierbar für sich mitnehmen, die tatkräftige Begei-
sterung für Kant und für das, was dieser Geniusgewollt hat!
Prof. Dr. Alex. Wernicke, Braunschweig.
(Pädagogisches Archiv 1906, Heft 11.)