128 Chamberlain, Immanuel Kant
berlain spricht vom Auge Kant’s, das nach dem Urteil
eines Zeitgenossen ‚wie vom himmlischen Aether gebildet
war“. „Dieses Auge... blickte mich an, als ich zum
erstenmale in einem Kant’schen Buche blätterte.“ ‚Den
Philosophen verehrte ich, doch der Mensch stand mir
näher, jener Weise, in dessen Auge eine Weltanschauung
sich spiegelt... Und so ward ich im Laufe der Jahre mit
Kant immer vertrauter. Seine Art zu denken wuchs in
mich hinein 'oder ich in sie.“ In einem köstlich ironisie-
renden Ton spricht Chamberlain:ein andermal von diesem
Verhältnis zu Kant. ‚‚Zwar bin ich kein Fachmann, doch
besitze ich statt dessen den grossen Vorzug, mich mein Le-
ben lang mit Kant beschäftigt zu haben, ohne dass er mir
zu irgend etwas anderem als zu dem allmählichen Aufbau
meiner persönlichen Weltanschauung verhelfen sollte.
Weder musste ich —: wie unsere. Privatdozenten — als
kaum flügge gewordener Fünfundzwanzigjähriger die aus-
gereifte Lehre des Sechzigjährigen so gut und so schlecht
es ging vortragen, mir dadurch auf immer das Verständ-
nis verrammelnd, noch trat ich ihm mit meinem eigenen
‚System‘ entgegen, dessen Berechtigung ich durch Angriffe
auf das seine zu erweisen gehabt hätte; ich war nicht ge-
nötigt, mich zu einer Partei zu schlagen; 'ich brauchte
nicht zu schmähen, was ich nicht verstand, ‘und nicht zu
vertreten, was meinem Denken nicht eingehen wollte.“ Und
er gesteht unumwunden ein, dass es noch heute Dinge in
Kant gebe, die er nicht verstehe. Doch hofft er, da ihn
noch zehn Jahre von dem Alter, in dem Kant die ‚Kritik
der reinen Vernunft‘ schrieb, trennen, dass ihm noch neue
Lichter plötzlich aufgehen würden. Tiefer und eindring-
licher kann kein Adept den Lehren seines Meisters ge-
folgt sein.
Von der Weltanschauung, zu deren‘ Aufbau ihm Kant
geholfen hat, haben die Bücher Chamberlain’s inzwischen
Zeugnis gegeben. Das Wagnerwerk und vor allem die
„Grundlagen“ sind von einem Mann geschrieben worden,