152 Chamberlain, Immanuel Kant
finden vermeint und ihn»und allen Widerstreit gegen ihn,
der im Menschen ist, ‘als Tatsachen zu erforschen ge-
trachtet.
Hier wurzelt das Problem der Kant’schen Philosophie;
die Lösung füllt Bände, ein kurzes Bild gestattet nur das
Problem: In der Natur das ewige Gesetz und die unent-
rinnbare Notwendigkeit; im Ich das unmittelbare, flam-
mend lebendige Bewusstsein der Freiheit; in der Wechsel-
wirkung dieser beider Welten alles Leben.
So weit der objektive Wert dieses Evangeliums Kant's.
Wie der Autor es unternommen hat, die Persönlichkeit
Kant’s zu neuem, mystischem Leben zu erwecken, ge-
mahnt an die Methode Kant’s selber: Beziehen und ver-
gleichen. Das Werk zerfällt in sechs Vorträge. Bücher
der Propheten könnte man die ersten fünf nennen. Wie die
Vorläufer des Heilands werden fünf der grössten Denker
und ihre Art, zu denken und zu schauen, dargestellt:
Goethe, dessen Welt das Auge war; sein „Hinstarren auf
die Natur“, das ihn die Ideen einer höheren Gottnatur
wahrhaft erblicken liess, wie sie in ewiger, wundersamer
Ruhe und Harmonie herrschen im chaotischen, sturmbe-
wegten und vielgestaltigen Weltall; sein Gegenbild, Leo-
nardo da Vinci, dessen Malerblick aus der Natur das Ge-
heimnisvollste der Erscheinung ins Gehirn zurückproji-
ziert, die Erscheinung aber immer auffasst, wie sie sich
darstellt, und nicht ihre Idee. Descartes findet die For-
mel zur Verknüpfung der sichtbaren und unsichtbaren
Welt in der Natur; sie stellt sich ihm dar als analytische
Geometrie. Giordano Bruno’s scholastisches Denken zim-
mert ein pantheistisches Weltsystem; aber schon führt uns
der Dichter über das platonische Reich der Ideen am Wesen
des Lebens vorbei auf den Gipfelpunkt der menschlichen
Erkenntnis: zu Immanuel Kant.
In allen diesen Tragödien menschlichen Denkens aber
rhapsodiert ein höchst subjektiver antiker Chor: die Meta-
morphosenlehre Goethe’s erscheint in der Allnatur, herr-