34 Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts
und diesen edlen Tieren nicht gestattet, mit seinem na-
türlichen, gesunden Urteil durchzugehen. Einfach ver-
möge unsrer Eigenschaft als lebendige Wesen steckt in
uns eine unendlich reiche und sichere Fähigkeit, dort, wo
es nottut, auch ohne Gelehrsamkeit das Richtige zu
treffen.“
Diese reiche und sichere Fähigkeit hat Chamberlain
besonders dort bewiesen, wo es sich darum handelt, das
Wesentliche — oder sagen wir mehr einschränkend: das
für seine Weltanschauung Bedeutungsvolle und Lebendige
— aus grossen geschichtlichen Perioden, aus dem inneren
Leben der für unsre Kultur wichtigen Völker, herauszu-
fühlen und darzustellen. Hier leitet ihn nicht nur ein feiner
Instinkt, sondern noch mehr eine grosse Anschauung,
ein weitumfassender Sinn für alles Charakteristische in
Persönlichkeiten wie in Völkerindividuen. Deshalb sind
besonders die das „Erbe der alten Welt“ entwickelnden
Eingangskapitel seines Buches von bestrickendem Zauber
und zugleich von monumentaler Grösse. Hier entfaltet der
Schriftsteller sein eminentes, zusammenfassendes und pla-
stisches Können, hier kommt zugleich der kühne Wagemut,
das kecke Zugreifen in der Stellung der Probleme, das
furchtlos über alle Hecken und Schranken der hergebrach-
ten wissenschaftlichen Tradition hinwegsetzende stolze
Selbstgefühl des mehr auf sein eigenes sicheres Empfinden
als auf die Ausführungen der „Gelehrten“ sich stützenden
Geschichtsphilosophen zur vollen Geltung. Seine Abhand-
lung über ‚„hellenische Kunst und Philosophie“ ist, unter
diesem Gesichtspunkt betrachtet, ein wie aus einem Stück
gegossenes, bruch- und sprungloses, prächtiges plastisches
Werk, obwohl es weder das Wesen des Hellenentums nach
allen Seiten hin erschöpft, noch in seinen wissenschaft-
lichen, d. h. literarischen und geschichtlichen Grundlagen
unangefochten bleiben wird. Wie die hellenische Kunst
und Philosophie noch gegenwärtig im Bewusstsein gestal-
tend weiter wirken, das bleibt für Chamberlain hier die