Besprechung v. Ernst Freiherr von Wolzogen 27
„Der Fall Wagner“ hat keineswegs verhindern können,
dass Wagner nach seinem Tode erst recht stark zu wirken
begann; durch seine Taten fand er den Weg zur Liebe sei-
nes Volkes und die staunende Bewunderung der ganzen
zivilisierten Erde; aber von seiner Gedankensaat, die er
neben seinem grossen schöpferischen Wirken noch aus-
streute, ist kaum etwas aufgegangen, während Nietzsche
heute im Reiche der Gedanken weitaus der mächtigste Be-
fruchter und Herrscher geworden ist. Wir mussten dazu
kommen, Schopenhauer zu überwinden, das lag in dem
starken Zuge der Zeit, und darum konnte auch Wagners
philosophischer Dilettantismus, wie man seine Auffassung
über so viele Erscheinungen der Gegenwart und Vergan-
genheit heute wohl ohne Verletzung schuldiger Ehrfurcht
nennen darf, auch nicht tiefer Wurzel fassen in den von
wahrhaft moderner Bildung erfüllten Köpfen. Es ist daher
ganz natürlich, dass die meist recht harmlosen Schwarm-
geister, die in dem Grillenhäuschen, genannt „Bayreuther
Blätter“, ihre Eier ablegen, die Teilnahme der Öffentlich-
keit nicht mehr erregen und dass man als wissenschaftlich
sich ausgebenden Arbeiten der Männer dieses Kreises mit
einem starken Misstrauen begegnet.
Ich muss gestehen, dass ich auch an Houston Stewart
Chamberlain’s gross angelegtes Werk über „Die Grund-
lagen des neunzehnten Jahrhunderts“ mit einem starken
Misstrauen herantrat. Als vor zwei Jahren derselbe Mann
den Text zu dem wunderschönen Bruckmann’schen Bilder-
buch über Wagner verfasste, verstand sich ein günstiges
Vorurteil ebenso von selbst; denn jeder Eingeweihte konnte
von Chamberlain’s edler Männlichkeit, seiner begeisterten
Liebe für den Meister und seiner allgemeinen hohen gei-
stigen Kultur über diesen Stoff, bei dem ein kritisches
Ablehnen ja nicht mehr in Frage kam, nur das beste
erwarten. Aber um dem höchstgebildeten deutschen Pu-
blikum von 1900 in drei Bänden die Grundlagen des ver-
Hossenen Säculums anschaulich darzustellen, die: Fäden