78 Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts
vom: grauen’ Altertum bis zur Gegenwart hinaufzuspinnen
und die Wechselwirkungen der verschiedensten Gedanken-
strömungen und Kulturtaten aufzudecken, dazu gehört so
ziemlich das Gegenteil von dem, was die von der gläubigen
Bruderschaft Wahnfrieds bisher für sich: in Anspruch ge-
nommenen Poeten, Philosophen und Geschichtsschreiber
geleistet haben. Die Bayreuther kleinen Propheten haben
uns schon oft durch ihre: Gabe, die: wunderlichsten Dinge
mit einander zu verquicken, überrascht, ohne dass man
sie darum: als besonders weitausblickende Geister und
glückliche Finder bezeichnen könnte — ganz im Gegenteil:
die Originalität dieser wunderlichen Heiligen bestand zu-
meist darin, dass sie das lebendige Geistesleben der Ge-
genwart, die naturwissenschaftliche Erkenntnis und die
soziale Evolution ignorierten und uns statt dessen die zeit-
bewegenden Fragen so darstellten, wie sie ihnen durch
ihre mannigfaltig gefärbten Brillen der Stöckerei und
Muckerei, der königlich preussischen Loyalität, des. Anti-
semitismus und Vegetarismus erschienen. Man braucht
nur daran zu denken, dass die Lieblingsworte der Wag-
nerianer: „Wahn, Not, Held, Welt‘ sind, und ihre Autori-
täten, neben dem Meister selbst, Schopenhauer, Carlyle,
Graf Gobineau und etwa noch Lagarde. Diese Begriffe
und diese Namen bezirken: mit hinreichender Deutlichkeit
den wagnerianischen Horizont, und wer Houston Stewart
Chamberlain als aufrechten Wagnerianer kennt, der
konnte von seinem Werke auch wohl nicht viel mehr als
phantastische Lyrismen eines besser belesenen Querkopfes
erwarten. Die Überraschung, die die Lektüre seines Wer-
kes.aber gerade den Kennern der Wagnerliteratur gewährt,
ist. eine vollkommene.
Man darf ruhig behaupten, dass keiner der jetzt le-
benden bedeutendsten deutschen Gelehrten imstande ge-
wesen wäre, dieses Buch zu schreiben. Ich glaube, es
wäre auch gar kein Gelehrter auf den Gedanken gekom-
men. Er würde das Unterfangen von vornherein für eine