Full text: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts und Immanuel Kant

  
Besprechung v. Ernst Freiherr von Wolzogen Ss 
  
und die Lehren der Weltgeschichte im allgemeinen zu Bau- 
steinen für sein neu und eigenartig anmutendes Bauwerk 
zu verwenden. 
So bringt ihn seine eigenartige Geschichtsauffassung 
beispielsweise dazu, die übliche Einteilung in Altertum, 
Mittelalter, Renaissance und Neuzeit zu verwerfen und 
dafür nur einen grossen Wendepunkt, etwa zu Beginn des 
dreizehnten Jahrhunderts, anzunehmen, zu welcher Zeit 
ungefähr der Sieg des Germanentums (worin Kelten und 
Slawen einbezogen werden) über die hellenisch-römisch- 
semitische Kultur entschieden ist. Die Renaissance hat 
seiner Meinung nach mindestens ebenso hemmend wie för-- 
dernd gewirkt, indem sie das Germanentum auf längere 
Zeit aus seiner vorgeschriebenen Bahn gedrängt habe, 
und unser neunzehntes Jahrhundert zeigt für ihn noch 
durchaus mittelalterliche Eigenschaften. Er bedenkt es mit 
folgenden Liebenswürdigkeiten: ‚Das Vorwalten des Pro- 
visorischen, des Übergangsstadiums, der fast gänzliche 
Mangel an Definitivem, Vollendetem, Ausgeglichenem ist 
ein Kennzeichen unserer Zeit; wir sind in der Mitte einer 
Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkt, vermutlich 
noch fern vom Endpunkte.“ Und an anderem Orte: „Unser 
Jahrhundert pendelt zwischen Empirismus und Spiritis- 
mus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man es 
witzig genannt hat, und dem impotenten Versuche seniler 
Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, 
zwischen Unfehlbarkeitserklärungen und stupidestem Ma- 
terialismus, zwischen Judenanbetung und Antisemitismus, 
zwischen raffinierten Meyerbeerschen Opern und urnaiver 
Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft und 
Proletarierpolitik.“ 
Seine Schätzung der drei herrschenden Rassen des 
Altertums, der Hellenen, Römer und Semiten, bringt zwar 
nichts durchaus Neues, hebt aber mit besonderer Energie 
die neueren Ergebnisse wirklich objektiver Forschung her- 
vor. So zerstört er das schöne Märchen von der altgriechi- 
Kritische Urteile 6 
 
	        
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