Full text: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts und Immanuel Kant

  
Besprechung v. Ernst Freiherr von Wolzogen 87 
  
higkeit, die dem Historiker allein schon einen erheblichen 
Vorsprung vor der gewöhnlichen, sesshaften Beschränkt- 
heit des Gelehrtenhirns verschaffen muss. 
Ich halte es für die grosse, unheilvolle Unterlassungs- 
sünde des neunzehnten Jahrhunderts, dass es versäumte, 
aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis die einzig 
richtige Nutzanwendung auf Religion, Staat und Gesell- 
schaft zu machen. Daher der betrübliche Rückgang an 
tatkräftigem Idealismus seit dem Jahre 48, daher der Man- 
gel an wirklichem Aufschwung nach 1870/71, daher die 
unselige Halbheit überall, das traurige Paktieren mit Rom, 
die Hilflosigkeit gegenüber der Sozialdemokratie und die 
öde, unfruchtbare Parteiwirtschaft. Chamberlain’s Werk 
ist wie wenige geeignet, dem germanischen Idealismus im 
besonderen und dem modernen Geist im allgemeinen Mut 
zuzusprechen. In diesem Werke hat ein starker, freier 
Geist in origineller Geschichtsbetrachtung unter Systemen 
und autoritativen Meinungen aufgeräumt, nicht um per- 
sönlich zu glänzen, wie es die fatale Eitelkeit heutiger 
verblüffender Feuilletonisten-Talente erstrebt; hier hat 
ein scharfsinniger Kopf sich zum Verteidiger des Christen- 
tums und zum Verherrlicher der Person Jesu aufgeworfen, 
der nichts weniger als ein protestantischer Pfaffe oder ein 
wunderlicher Schwarmgeist vom Schlage Tolstoi’s ist; hier 
hat ein germanischer Mann den Mut gehabt, der Juden- 
frage historisch nachzugehen, ohne von stumpfsinniger 
antisemitischer Leidenschaft verblendet zu sein; hier hat 
ein über den politischen Parteien und über allen nationalen 
Engherzigkeiten stehender Weltmann sein Wort über das 
Nationalitätsprinzip in die Wagschale geworfen. 
Ich möchte zum Schluss bemerken, dass ich für meine 
Person das Christentum nicht als eine Religion für die 
ganze Menschheit und für alle Zeiten geeignet anerkennen 
kann, und dass ich keine Lösung sehe für die Frage, die 
mir aus Chamberlain’s Rassentheörie hervorzugehen 
scheint, nämlich die Frage: wie soll bei der unwidersteh- 
 
	        
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