94 Ernst Jo@öl und Fritz Fränkel:
durch Cocain unbeeinflußt. Beim Abklingen der Wirkung oder wenn er kein Geld zu Cocain
hatte, apathisch und lebensüberdrüssig. Erbettelte sich dann mitunter von Freunden Mor-
phium oder Cocain.
9. E.R., 23 Jahre, Zeichner. Mutter schwer nervöse Frau, Vater war starker Trinker,
Pat. war als Kind etwas scheu und furchtsam, ohne Freunde. Volksschule, Gymnasium
bis Tertia, Kunstschule. Kein Alkoholsabusus. Lues. Nach !/,jährigem Kriegsdienst
Knieschuß; bekam während der zweimonatigen Lazarettbehandlung reichlich Morphin,
an das er sich, bald, wenn auch nicht leidenschaftlich, gewöhnte. Machte sich nach seiner
Entlassung mit eigner Spritze fast täglich eine Morphiuminjektion. Die Rückkehr ins
Zivilleben fiel ihm schwer. Sexuell übersättigt, gab er jeden geselligen Verkehr auf, las
Tolstoi, Nietzsche und andere ihm zugängliche philosophische Schriften; das ganze Leben
kam ihm „schal, erbärmlich und eitel“ vor, und er verspürte den Wunsch, sich zu betäuben.
Da er flüchtig von Cocain gehört hatte, begann er im Brockhaus über Cocainwirkungen nach-
zulesen, studierte auch flache mondäne Bücher, die er im übrigen als „Blödsinn“ verurteilte,
lediglich auf den dort beschriebenen Cocaingenuß und ließ sich von einem Arzt, dem er sich
als Cocainist ausgab, das Gift verschreiben. Er fing (1920) das Schnupfen mit etwa 1/, g
täglich an, wiederholte dies nach einigen Tagen und kam schnell zur Wirkung, die in einer
„kolossalen Anregung‘ bestand. Er fühlte sich ‚‚frisch im Kopf, wie auf Federn‘, begann
alles Gelesene nochmals zu verschlingen, alles ging ihm jetzt ganz anders ein, Bei Kerzen-
schein studierte und verglich er die Bücher, machte sich mit fieberhaftem Eifer eine Fülle
von Aufzeichnungen, schrieb Abhandlungen über den Teufel und über das „zweite Ich“,
verfaßte Gedichte, kam sich vielseitig und bedeutend vor. Oft saß er auch nachts vorm
Spiegel, verfolgte sein Mienenspiel, übte sich Gesten ein, schminkte sich, fand Gefallen
an der eigenen Person. Kam der Morgen, so ‚‚war es zum wahnsinnig werden“, eine ungeheure
Angst vor dem Tag packte ihn; war jemand bei ihm (z. B. eine Freundin, die er zum Cocain-
genuß veranlaßt hatte), so war er glücklich, den Betreffenden so lange bei sich, behalten
zu können, bis er einschlief. In den ersten Monaten bestand zuweilen Verfolgungsangst, er
rannte „‚wie gejagt‘‘ durch die Stadt, benutzte Nebenstraßen, litt unter bösem Gewissen.
(Deutet an, daß in der Tat damals irgendeine illegale Handlung bei ihm vorgelegen hatte.)
Diese Angstzustände haben später ganz aufgehört, ebenso wie das früher bei ihm konstant
auftretende Symptom der zwangsmäßigen Kaubewegungen bei leerem Mund. Eines Tages,
etwa 3 Monate nach Beginn des Öocainschnupfens — seine tägliche Dosis war inzwischen
auf etwa 2 g gekommen — brach er zusammen und wurde im Zustand drohender Atem-
lähmung einem Krankenhaus überwiesen. Dort habe er angeblich viel Pantopon bekommen,
heimlich, auch, weiter Cocain geschnupft, und wurde schließlich nach 8 Wochen ungeheilt
entlassen, Bei vielfachem Ortswechsel setzte er auch jetzt den Cocainmißbrauch weiter fort,
Er entdeckte dabei eine ihm früher ganz unbekannte homosexuelle Komponente seines
Trieblebens, die er bei verminderter Potenz auch betätigte. Er verbrachte jetzt ganze Nächte
im Cocaingenuß mit seinem Freunde, auch jetzt vielfach in phantastischen Kostümen und
feierlicher Aufmachung. In letzter Zeit ist an die Stelle des Cocains fast ausschließlich
das Morphin getreten, von dem er täglich 0,2 g in 20 Spritzen verbraucht. Die körperliche
Untersuchung ergab: blasser, etwas verlebt aussehender Mann, in mäßigem Ernährungs-
zustand; gesteigerte Sehnenreflexe. Zahlreiche z. T. derb infiltrierte Einstichnarben an
beiden Unterarmen und Oberschenkeln. Innere Organe ohne Besonderheiten. Wa.-R.: -+.
Potenz völlig erloschen. Psychisch: gutes Allgemeinwissen, geschickte Darstellungsweise,
Intellekt und Phantasie lebhaft. Gedächtnis habe angeblich nachgelassen. Während der
Exploration plötzliches Abspannungsgefühl, das nach einer Morphiuminjektion wieder
verschwindet.
10. B.E., 23 Jahre alt, Kaufmann. Wurde im August 1921 eines Abends der Rettungs-
wache durch die Polizei eingeliefert, die ihn auf der Straße herumirrend und Passanten in
verworrener Weise um Schutz anflehend aufgefunden hatte. Schlanker, blaß und elend
aussehender Mann mit leerem, unstetem, verängstigtem Gesichtsausdruck. Gesicht schweiß-
bedeckt, Zunge trocken, Lippen borkig belegt, Pupillen mittelweit, rengierend, Puls be-
schleunigt. Kein Alkoholgeruch. Er verweigerte äußerst furchtsam die körperliche Unter-
suchung, wiederholte mit klagender, monotoner Stimme immer dieselben Worte: „Nehmen
Sie mich doch auf, Herr Doktor!“, schien zeitlich und örtlich orientiert, ohne daß aber