Full text: Der Cocainismus

98 Ernst Jo&l und Fritz Fränkel: 
des Vorabends, empfand niemals Reue, sondern lediglich ein Bedauern, daß das wirkliche 
Weltbild anders sei als das durch Cocain erzeugte. Auf einmaligen Injektionsversuch hoch- 
gradiger Angstzustand mit anschließender Verfolgungshalluzination. Selbst Cocainhändler 
geworden, halten ihn die vielfachen Sorgen — Warenbeschaffung Verkauf, Polizei — den 
ganzen Abend in einer nervösen Hastigkeit, in der er keinen Moment ruhig sitzen bleibt, 
sespräche im Satz abbricht, unruhig nach dem Eingang späht, in seinen Taschen nach 
angeblich verlorenen Dingen herumkramt, Prisen hochzieht, an den Nägeln kaut und sich 
tausenderlei Eintragungen in sein Notizbuch macht, immer in Angst, das Wichtigste zu 
vergessen, zZ. B. „„G. kriegt von mir noch ein Pulver“; ‚mit F. wieder vertragen“ usw, Ver- 
blüffend war der Eindruck des betreffenden Lokals, als ihm eines Abends eine Cocain- 
sendung ausgeblieben war. Tonangebende, sonst tanz- und redelustige Cocainisten hockten 
gähnend in den Ecken; einige schliefen. — Niemals eigentliche Delirien, wohl aber akustische 
und optische Umdeutungen und Verkennungen, in denen er irrtümlicherweise sich immer 
wieder angerufen glaubte und in allen möglichen von ferne gehenden oder sitzenden jungen 
Leuten immer dieselbe, gerade jetzt herbeigewünschte Person zu sehen vermeinte, Sehr 
oft nach, der „Arbeit“ Versinken in Wachträume, in denen er sich reich sieht, umfangreiche 
finanzielle Aufstellungen entwirft, große Geschenke austeilt und oft genug in einem Kreis 
jüngerer Burschen, denen gegenüber er den „Kavalier‘ spielt, freigebig den Verdienst des 
Abends vers 
enkt, Erhebliche Vernachlässigung seines Anzuges und der körperlichen 
Pflege. Eines Nachts von Kriminalbeamten festgenommen, schnitt er sich die linke Puls- 
adergegend an, ohne vom Schnitt und der gleich angelegten Naht das geringste zu spüren, 
brachte im Polizeigewahrsam durch einen in die Urethra eingeführten Seifenspan eine alte 
Gonorrhöe provokatorisch zum Wiederaufflackern und entfloh der Spezialklinik, in die man 
ihn gebracht hatte. Körperlich: graziler Habitus, etwas verlebte und weichliche Ge- 
sichtszüge; mittelmäßiger Ernährungszustand. Bei Cocaingenuß das typische Aussehen: 
maximale, aber reaktionsfähige Pupille, weite Lidspalten, Blässe und leichter Schweiß 
im Gesicht, trockene Zunge und Lippen, Tremor der Hände, Nausea. Ekel beim Anblick 
fester Speisen, hochgradiger Durst. Am nächsten Mittag starker Hunger, reichliche 
Nahrungsaufnahme, bald darauf erste Prise. Psychisch: bei geringem Allgemeinwissen 
überdurchschnittliche Intelligenz von pfiffig-kaufmännischem Einschlag. Neigung, seine 
Erlebnisse und Gedanken bürokratisch zu registrieren. Mangel an moralischen Vor- 
stellungen, Während des Cocaingenusses schwer fixierbar. Bemerkenswerte Verschie- 
denheiten der Cocainwirkung innerhalb seines gewohnten Milieus und anderswo, wo an 
Stelle der sonstigen Unbefangenheit die Selbstbeobachtung tritt, Libido angeblich 
durch Cocain gesteigert, aber auch indirekt die Potenz, weil er erst durch Cocain 
gewisse Hemmungen verliert. Ausschließlich inverse Betätigung. Bei Cocainenthaltung, 
die er einige Wochen durchgeführt habe, leide er zuerst sehr an Kopfschmerzen, 
großem Schlafbedürfnis und Schwere in allen Gliedern, Er glaubte, auch ohne Cocain aus- 
kommen zu können. Als er durch Krankheit stark heruntergekommen, davon lassen wollte, 
hat er sich, aber überzeugen müssen, daß ihm schon eine Einschränkung des Verbrauches 
nicht gelang. Bei seiner vor einiger Zeit erfolgten Internierung in einer Anstalt für jugend- 
liche Psychopathen habe er in der ersten Zeit das Cocain sehr entbehrt und sich matt gefühlt. 
Der Öoeainhunger habe nach etwa 2—3 Wochen völlig aufgehört. Das körperliche Befinden 
besserte sich, er nahm im ganzen 18 Pfd. zu. Nach 13wöchigem Aufenthalt ist er aus der 
Anstalt entwichen und hat noch am Abend seiner Ankunft in Berlin das Schnupfen und den 
Handel wieder begonnen. Er machte zunächst einen bedeutend gesünderen Eindruck. 
Inzwischen ist er dem Mißbrauch wieder stärker verfallen, er beklagt sich selbst über zu- 
nehmende Nervosität, bemerkt, daß er zerfahrener, flüchtiger, vergeßlicher geworden sei, 
leidet an Kopfschmerzen. Bei dem Versuch, Morphiuminjektionen an Stelle von Cocain 
zu nehmen, außerordentliche Müdigkeit, Gliederschwere, mehrfaches Erbrechen. In letzter 
Zeit trotz des Erbrechens dauernder Morphin- und Heroingenuß neben dem Cocain. 
Vgl. Auszug aus seinen Notizbüchern 8. 102. 
14. Frau K. E., 27 Jahre. Vater war Trinker. Mutter äußerst nervös. Ein Bruder peri- 
odischer Alkoholiker. Zwei Schwestern sind in der christian science tätig. K. E. als jüngstes 
Kind sehr verzogen. Gute Schülerin. Nie zu ernster Arbeit aufgelegt gewesen. elegentlich 
einer Blinddarmentzündung erste Bekanntschaft mit Morphium. Reagierte damals mit Er- 
brechen. Gewöhnte sich dann später an kleine innerliche Dosen, die ihr wesen Hustens
	        
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