Full text: Der Cocainismus

Der Cocainismus, 71 
können, wo ja schon eine Karenz oder sogar schon eine Reduktion der Dosis 
während weniger Tage genügt, um ein relativ hohes Maß von Empfindlichkeit 
wiederherzustellen. Der Cocainist hingegen muß zu seiner alten Dosis zurück- 
kehren, um den gewünschten Erfolg zu haben. Der wirklichen Gewöhnung 
des Morphinisten entspricht eine wirkliche Entwöhnung. Der Mangel einer 
solehen Entwöhnung beim Cocainisten spricht dafür, daß es während. des Ge- 
brauchs überhaupt nicht zu einer Steigerung der Toleranz gekommen ist. 
Einen noch unmittelbareren Beitragzu diesem Gegenstand bieten aber unsere 
auf $. 100 geschilderten Versuche an Cocainisten. Es handelte sich, bei zweien 
von ihnen (R. F. und L. E.) um seit Jahren mit dem Gift vertraute Cocainisten, 
die ihre Tagesdosis ziemlich, hoch. (1—3 g) angaben. Die Wirkung, und zwar 
eine weit stärkere, als wir sie sonst bei ihnen sahen, trat schon nach, der geringen 
auf mehrere Stunden verteilten Gesamtgabe von 0,5 gein, also bei einer Größen- 
ordnung, die — bei nasaler Anwendung — auch sonst als die durehschnittliche 
zur erstmaligen Erzeugung einer großen Wirkung von uns konstatiert worden 
ist. Beide Cocainisten reagierten also, was die Höhe des Giftquantums anlangt, 
nicht anders als Anfänger. Im gleichen Sinne sprechen Versuche, die Frantz 
auf unsere Veranlassung angestellt hat und in denen sich auch auf körperlichem 
Gebiete ergab, daß langjährige Cocainisten auf eine subeutane Einzeldosis 
von 0,05 g Cocain durchaus nicht geringere Erscheinungen aufwiesen als durch- 
schnittlich. reagierende Nichteoeainisten. Neben der Möglichkeit, daß manche 
Coeainisten absichtlich viel höhere Dosen angeben, um damit zu imponieren, 
ist natürlich auch stets die Reinheit des Präparates zu berücksichtigen, von 
der wir uns ja in unseren eignen Versuchen versichern konnten. 
Es bleibt noch, übrig, auf ein sehr charakteristisches Symptom einzugehen, 
das zunächst im Sinne einer Gewöhnung zu sprechen scheint. Fast alle Coca- 
inisten geben an, in ihrer Anfangszeit tage- und nächtelang wach, und in fast 
unterbrechungsloser Bewegung gewesen zu sein, was ihnen später nicht mehr 
möglich. war. Wir glauben aber hierin lediglich den Ausdruck einer durch den 
fortwährenden Giftgenuß veränderten, d. h. abgeschwächten Beaktionsmöglich- 
keit des Organismus zu sehen. Die psychomotorische Erregbarkeit und, Er- 
regung ist nicht geringer geworden, aber die Umsetzung in körperliche Bewegung 
ist gegenüber dem Gesunden bei dem chronisch Vergifteten und Erschöpften 
beschränkt. 
Für die Vermutung Lewins, daß sich Morphinisten schneller ans Cocain 
gewöhnen, weil das Morphin schon die Angriffspunkte des Cocains im Sinne 
einer erhöhten Toleranz verändert habe, konnten wir unter unseren Fällen 
keine Bestätigung finden. Nach unseren Beobachtungen ist das Gegenteil 
wahrscheinlicher. 
Fragen wir schließlich noch, ob vielleicht, wofür ja das Tierexperiment 
3elege gibt, auch beim Menschen etwa das Gegenteil von Gewöhnung, d. h. 
eine zunehmende Sensibilisierung stattfindet. In einigen Fällen sind uns 
Angaben über eine Abnahme im Verbrauch der Alkaloidmengen gemacht worden, 
aber auch hier muß man in der Deutung zurückhaltend sein. Ein Abbau der 
Menge kann seinen einfachen Grund, darin haben, daß die ursprüngliche Dosis 
überflüssig hoch gewählt war, ohne doch, deshalb geradezu toxisch gewesen zu 
sein. kurzum der Betreffende war von vornherein cocainempfindlicher als 
er selbst wußte: ernahm damals ‚auf alle Fälle‘ möglichst viel von seinem Pulver.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.